Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
als bei all seinen bisherigen Rennen.«
Kostman wusste nicht einmal die halbe Wahrheit. Scott hatte sich in jenem Jahr so sehr auf sein Geländelauftraining für Western States konzentriert, dass er nie mehr als 15 Kilometer am Stück auf Asphalt zurückgelegt hatte. Was nun die Gewöhnung an die Hitze betraf … na ja, in Seattle regnete es nicht jeden Tag, aber so gut wie. Das Tal des Todes erlebte dagegen einen der heißesten Sommer seit dem Beginn meteorologischer Aufzeichnungen, die Temperaturen bewegten sich um 54 Grad Celsius. Der kühlste Tagesabschnitt am kühlsten Sommertag war immer noch sehr viel heißer als die absoluten Höchsttemperaturen des Sommers in Seattle.
Die einzige Hoffnung eines Läufers, Badwater wohlbehalten zu überstehen, ruhte auf der erfahrenen Versorgungsmannschaft, die Puls, Blutdruck und Gewicht überwachte und leicht verdauliche Nahrung und Elektrolytgetränke bereithielt. Einer von Scotts stärksten Konkurrenten wurde in jenem Jahr von einem Ernährungswissenschaftler und vier für seine speziellen Bedürfnisse ausgestatteten Fahrzeugen begleitet, die ihm entlang der Strecke abwechselnd zur Verfügung standen. Scott wiederum hatte seine Frau, zwei Freunde aus Seattle und Dusty dabei, wobei sich Dusty eben erst von einem Kater erholte, der ihn immer noch plagte, als er kurz vor dem Start auftauchte.
Scotts Konkurrenz sollte so heiß sein wie die Temperaturen auf der Strecke. Er hatte es mit Mike Sweeney zu tun, dem zweimaligen Champion des höllisch heißen H. U. R. T. auf Hawaii, außerdem mit Ferg Hawke, dem hervorragend vorbereiteten Kanadier, der in Badwater im Vorjahr nur knapp geschlagen Platz zwei belegt hatte. Die zweimalige Badwater-Siegerin Pam Reed ging abermals an den Start, ebenso wie Mr. Badwater persönlich: Marshall Ulrich, der Ultralangstreckenläufer, der sich die Zehennägel hatte entfernen lassen. Marshall hatte Badwater nicht nur viermal gewonnen, er war die Strecke auch viermal nonstop gelaufen. Marshall lief einmal, nur so zum Spaß, ganz allein durch das Tal des Todes und schob dabei seinen Essens- und Wasservorrat in einem kleinen Karren vor sich her, der auf Fahrradrädern rollte. Und Marshall war nicht nur zäh, er war auch noch gerissen. Einer seiner Lieblingstricks war, die Rücklichter seines Begleitfahrzeugs von seiner Crew nach Einbruch der Dunkelheit Stück für Stück mit Klebeband abdecken zu lassen. Läufer, die ihn in der Dunkelheit noch einholen wollten, gaben dann wiederholt auf, weil sie glaubten, Marshalls Vorsprung würde immer größer, während er in Wirklichkeit nur eine halbe Meile entfernt war.
Ein paar Sekunden vor 10 Uhr morgens drückte jemand den Knopf eines Ghettoblasters. Die Nationalhymne ertönte, und Hände wurden auf Herzen gelegt. Schon das bloße Herumstehen in der prallen Morgensonne war für alle Beteiligten unerträglich, mit Ausnahme der echten Badwater-Veteranen, deren Expertise schon an ihren Shorts zu erkennen war: Pam und Ferg und Mike Sweeney trugen seidene Shorts und Muscle-Shirts, und die glühend heiße Sonne schien ihnen ganz egal zu sein. Scott wiederum kam daher, als hätte er sich für das Hochsicherheitslabor eingekleidet: Er trug einen weißen Sonnenschutzanzug, der von Kopf bis Fuß reichte, was ihn wie ein echtes Landei aus Minnesota aussehen ließ, und die langen Haare hatte er unter einer albern wirkenden französischen Fremdenlegionärsmütze verstaut.
Los! Scott stürmte wie Braveheart voran. Doch dieses eine Mal klang sein Startschrei schwach und klagend; in der ehrfurchtgebietenden Weite der Mojave-Wüste verhallte er wie ein Echo aus der Tiefe eines Brunnens. Mike Sweeney hatte dagegen seine eigene Art, Scott zum Schweigen zu bringen: Er hatte vor, sich gleich vom Start weg einen uneinholbaren Vorsprung zu verschaffen, nur zur Vorbeugung, falls der Wunderknabe vielleicht plante, sich an seine Fersen zu heften, um dann auf den letzten Kilometern munter zu werden. Und Sweeney war zu so etwas sehr wohl imstande. In einer Sportart, die nicht gerade für Aggressivität bekannt war, galt er als einer der wirklich harten Burschen. Noch als Twen war er ein Klippenspringer in Acapulco gewesen (»Ich hab mir zur Abhärtung immer auf den Kopf gehauen«), später arbeitete er dann als Lotse in der Bucht von San Francisco und kommandierte eine Besatzung, die große Frachtschiffe führte. Scott genoss den ganzen Sommer hindurch die frische, nach Nadelbäumen riechende Luft in den Bergen, während Sweeney
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