Bosmans/Deleu 05 -Schnitzeljagd
zusammen, und als er in das mitleidige Gesicht schaute, das ihm aus dem hochgeschlagenen Kragen des zu großen Trenchcoats entgegenblickte, hätte er den älteren Herrn am liebsten umarmen und sich unter dessen Mantelschößen vor dem ganzen Wahnsinn verstecken wollen. Schlafen wollte er. Nur noch schlafen. Und träumen, von früher. Damals, mit Barbara und Rob, gemeinsam in ihrem gemieteten Wochenendhaus an der Semois. Durch die Wälder wandern. Oder morgens eine duftende Tasse Kaffee trinken und dann zur Arbeit, mit dem Fahrrad, wenn das Wetter es zuließ. Zu den Kollegen. Mit neuen Bewerbern sprechen. Betriebspsychologe. Einfach leben. Er seufzte schwer.
Jos. Jos, wo steckst du? Was soll ich, um Himmels willen, tun? Was?
Der Alte deutete besorgt auf den regennassen Verband. »Ist wirklich alles in Ordnung, junger Mann?«
»Ja, vielen Dank. Es geht schon wieder«, antwortete Deleu heiser. Dann lief er hastig weiter, quer über die Straße, wo ein etwa zwölfjähriger Junge an einer Mauer lehnte, in einer grünen Windjacke und Springerstiefeln, genau wie Hermans gesagt hatte. Neben ihm stand ein rotes Mountainbike.
Der Junge verzog keine Miene, als Deleu vor ihm auftauchte, doch in seinen Augen blitzte ein Glitzern auf und er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
»Was hat er dir gesagt?«, fragte Deleu und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. Doch der entzog sich seinem Griff und nestelte an seinem Ohrring.
»Erst müssen Sie mir Ihr Handy geben.«
Deleu warf einen Blick auf den gierig fordernden Zeigefinger, und seine Miene verdüsterte sich. »Was sollst du für ihn tun? Was hat er dir gesagt oder versprochen?«
»Erst das Handy.« Die Worte klangen ungemein aggressiv für einen Jugendlichen.
Deleu zögerte. Dann schoss seine Hand vor und packte das Kerlchen an der Schulter. »Wo ist er? Wo steckt der Mann? Was sollst du für ihn tun? Hat er dir Geld gegeben?«
Der Junge schaute stur geradeaus, doch bei der letzten Frage presste er die Lippen aufeinander.
Deleu wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
Money makes the world go round.
Wie alt war der Junge? Langsam stieg Wut in ihm auf. Seine nächsten Sätze kamen wie eine Maschinengewehrsalve: »Was hat der Mann getan? Wohin ist er gegangen? Hatte er ein Auto?« Er packte den Jungen vorn an der Jacke, verpasste ihm eine Ohrfeige und schüttelte ihn grob. Ein kräftiger Mittdreißiger blieb stehen und kam dann auf die beiden zu, doch als er Deleus wütenden Blick sah, machte er sich rasch wieder aus dem Staub.
»Der Kerl ist ein eiskalter Mörder!«, brüllte Deleu. »Ein erbarmungsloser Psychopath. Und er will zwei Frauen ermorden. Schwanger und …« Deleus Griff lockerte sich. Das hier hatte keinen Sinn. Der Junge reagierte kaum. Er wirkte zwar etwas ängstlich, aber immer noch unbeirrt. »Er hat dir noch viel mehr Geld versprochen.«
Plötzlich warf der Junge nervös einen Blick über die Schulter. Deleu spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Er folgte dem Blick des Jungen, doch da war nichts – nur das Klappern eines losgerissenen Fensterladens. Ruckartig ließ er den Jungen los, aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen. »Wo ist er?«
Der Junge wich einen Schritt zurück. Ein vorsichtiger, prüfender Blick.
»Willst du mit auf die Wache? Das liegt ganz bei dir. Wie heißt du? Zeig mir deinen Ausweis.«
Der Junge schaute sich ein weiteres Mal um und blickte dann Deleu an. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und spielte anschließend wieder an seinem Ohrring herum.
»Was machst du da? Ist das das verabredete Zeichen? Wie heißt du?«
Der Junge schob das Kinn vor. »Ich hab nichts getan. Lassen Sie mich in Ruhe. Sie sind ja verrückt!« Damit drehte er sich um und sprang auf sein Mountainbike.
Obwohl der Junge kräftig in die Pedale trat, hatte Deleu ihn innerhalb kürzester Zeit wieder am Kragen. »Du bleibst hier, verdammt noch mal!«
Zappelnd versuchte der Junge, sich loszureißen. Deleu schaute sich um; er hatte alle Mühe, den Jungen im Griff zu behalten.
Er muss hier irgendwo sein. Er sieht mich.
»Lassen Sie mich los!«
Der Ellbogenstoß prallte an Deleus Schulter ab, und er zerrte den Jungen von seinem Mountainbike und nahm ihn in den Schwitzkasten. »Hey! Schön ruhig, hörst du? Wir fangen noch mal von vorn an. Aber du bleibst ruhig, verstanden?«
Das Keuchen ging in ein Zischen über wie bei einem Reifen, aus dem langsam Luft entwich. Als der Junge mühsam nickte, lockerte Deleu seinen
Weitere Kostenlose Bücher