Bosmans/Deleu 05 -Schnitzeljagd
ein Recht auf die Wahrheit. Der Meinung bin ich zumindest. Was denkst du, Bosmans?«
»Das ist unerhört!«, tobte der Rechtsanwalt mit hochrotem Gesicht und stieß versehentlich gegen den Ellbogen seines Mandanten. Der Hausarzt wurde noch bleicher. Er verstand zwar kein Wort von diesem ganzen Geplänkel, aber er hatte Angst. Todesangst.
»Wie alt bist du, Jos?«
Die unerwartete Frage seines Kollegen und langjährigen Freundes schien Bosmans einen Moment zu verwirren. Bauwens kannte doch sein Alter. Sie hatten zusammen die Schulbank gedrückt, auf dem Sint-Michiels-Gymnasium. Doch dann fing sich der Untersuchungsrichter wieder und lächelte. »Kannst du Boule spielen, Diederik?«
»Nein. Noch nicht. Aber ich spiele ganz ordentlich Billard.«
»
Bon.
Dann werden wir uns also bestimmt nicht langweilen.«
»Nein, ich glaube nicht«, bestätigte Bauwens und öffnete die Tür.
»Warten Sie!«, rief der Rechtsanwalt, der trotz der lächerlichen Darbietung begriff, dass beide Juristen bereit waren, bis zum Äußersten zu gehen. »Geben Sie mir einen Moment Zeit. Ich möchte mit meinem Mandanten unter vier Augen …«
Bauwens’ Geste unterbrach die aufkommende Wortflut, so wie Moses das Rote Meer geteilt hatte.
Bestürzt starrte Dirk Deleu auf das vergammelte Wurststück. Seine Hände zitterten, sein Kinn bebte, seine Knie zuckten.
Er wusste sich keinen Rat mehr. Wusste überhaupt nicht mehr weiter. Er hörte ein Geräusch, konnte es aber nicht zuordnen. Vollkommen desorientiert. Seine Hände schwitzten, als er den Brief auseinanderfaltete.
Lieber Dirk,
ich plane einen kleinen, aber effektiven operativen Eingriff. Und ich hätte gern, dass der Vater anwesend wäre.
Dein Freund Jozef
Die Kassette schlug gegen den Schacht, als Deleu sie in den Kassettenrekorder schob. Dieser Rekorder war eine Reliquie, ein Fossil, ein greifbares Andenken an seine Erstkommunion. Außerdem handelte es sich um eines der wenigen persönlichen Dinge, die er bei seinem Auszug mitgenommen hatte.
Barbara. Nadia. Wer? Was? Wen soll ich retten, wenn ich wählen müsste …
Deleu presste die Hand auf den Mund und summte eine beliebige Melodie. Dann schloss er die Augen und trommelte mit den Fingern gegen die Schläfen, bis es schmerzte. Schließlich suchte er an der Rückenlehne eines Küchenstuhls Halt.
Das laute Klacken brachte ihn schlagartig zurück in die Wirklichkeit. Der Rekorder sprang an. Das Rauschen dauerte eine halbe Ewigkeit.
Nach einer Minute riss Dirk Deleu den Mund auf, brachte aber keinen Ton hervor – der Schrei blieb ihm im Hals stecken.
Er stand mühsam auf, verlor das Gleichgewicht, taumelte zur Seite, ruderte mit den Armen und stürzte zu Boden. Reglos blieb er liegen und starrte an die Decke. Minutenlang. Das Geräusch würde nie mehr verstummen. Nie mehr.
*
»Und warum haben Sie Hermans zu dem plastischen Chirurgen Harry de Coninck geschickt? Wahrscheinlich, weil er ein Freund war. Jemand, der sich denselben berufsethischen Prinzipien verpflichtet fühlt wie Sie.« Bosmans musterte den Hausarzt, der jedoch schwieg. Genau wie sein Anwalt. »
Bon
, dann will ich die Frage mal anders formulieren …«
»Mein Kollege will schlichtweg wissen, ob auch Harry de Coninck sämtliche Skrupel über Bord wirft, wenn genügend Geld im Spiel ist«, warf Bauwens trocken ein.
Die Augen des Anwalts flackerten kurz auf. Ein Automatismus drängte ihn, das Wort »auch« anzufechten, doch er hielt sich zurück.
»Wo können wir De Coninck finden?«, fragte Bosmans, der keine Zeit mehr verlieren wollte.
Der Hausarzt schaute ihn lange an. Zum ersten Mal zeigte er überhaupt eine Regung. »Harry ist tot.«
Bosmans und Bauwens schwiegen.
»Tot?«, fragte Rechtsanwalt Verwilghen überrascht.
»Er wurde mit dem Wagen seiner Frau überfahren. Als er eines Nachts das Penthouse seiner Geliebten verließ, wurde er über den Haufen gefahren. Auf dem Bürgersteig.«
Bauwens schlug sich auf den Oberschenkel und erinnerte sich wieder: »Die Frau hatte ein Alibi und beteuerte, dass ihr Auto, das später in Antwerpen aufgefunden wurde, gestohlen worden sei. Der Fall wurde zu den Akten gelegt. Man hat ihr keine Schuld nachweisen können.«
Der Hausarzt nickte und rührte gelassen in seinem Kaffee.
*
Nicht weit entfernt rührte ein anderer Mann im selben Moment in seinem Kaffee und hielt dann abrupt inne. Als der Löffel gegen den Tassenrand klirrte, strich er sich amüsiert über das Kinn.
Dies versprach, ein
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