Bote des Todes
Hilfe braucht“, sagte Colleen und legte das Küchentuch weg. „Du weißt ja, wie sehr er es liebt, wenn wir unten sind.“
„Ich weiß. Ich sehe nur noch nach Mum und Granny Jon, dann komme ich nach.“
Als Moira in das kleine Wohnzimmer kam, war ihre Mutter bereits zu Bett gegangen, während Granny Jon sich noch die Nachrichten ansah. Sie lächelte Moira an und deutete mit einem Nicken auf das Sofa, das gleich neben ihrem bequemen Sessel stand.
„Alles aufgeräumt?“
„Ja, alles erledigt. Ich wollte hören, ob du noch irgendetwas brauchst.“
„Ach, Moira, du kannst dem Herrn danken, dass ich immer noch auf den Beinen bin.“
„Das mache ich jeden Tag“, erwiderte Moira ernst. „Du bedeutest uns allen sehr viel.“
Granny Jon nickte und lächelte weiter. „Ich danke dir. Es ist wirklich schön, dass ihr Kinder zu Hause seid. Es ist gut, wenn man noch in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen. Aber man kann sich glücklich schätzen, wenn man so liebe Verwandte hat, die einem das eine oder andere abnehmen.“
„Wir können uns auch glücklich schätzen.“
„Wirklich?“
Moira machte ein fahrige Handbewegung. „Ich habe so viele Freunde, deren Eltern geschieden sind und die dadurch kein Zuhause mehr haben, in das sie zurückkehren können. Jedes Mal, wenn es in ihrem Leben ein wichtiges Ereignis gibt, müssen sie erst einmal überlegen, wo was mit wem stattfinden soll. Deshalb weiß ich, dass wir glücklich sein können.“
Granny Jon nickte ernst. „Gut. Die Hälfte ihres Lebens schätzen die meisten Menschen gar nicht, was sie haben.“ Sie machte eine Pause. „Aber geh nicht zu hart mit denen ins Gericht, die sich an die alte Heimat erinnern.“
„Das … das will ich doch gar nicht.“
Granny Jon schwieg gut eine Minute lang, dann sagte sie: „Ich bin sehr alt, wie du weißt.“
„Alter ist relativ“, entgegnete Moira.
„Ja, aber ich kann mich an sehr viele Dinge erinnern. Zur Zeit des Osteraufstands war ich noch ein Kind. Wir lebten damals in Dublin, und ich habe gesehen, wie ganze Straßenzüge in Flammen standen. Freunde von mir – kleine Kinder – kamen im Kugelhagel ums Leben.“
„Das tut mir Leid. Du hast nie etwas davon erzählt.“
Granny Jon zuckte mit den Schultern. „Dublin ist heute eine wundervolle Stadt. Und die Iren sind wunderbare Menschen. Ich sage das, weil … na ja, manchmal, wenn Menschen in einer Zeit der Gewalt zur Welt kommen, dann bleiben Narben zurück. Die Alten können es nicht immer unterlassen, über die Vergangenheit zu reden … und darüber, was sie sich von der Zukunft erhoffen.“
„Granny Jon, ich glaube nicht, dass Bomben und Granaten …“
„Bomben und Granaten sind falsch. Unschuldige zu ermorden, ist falsch. Ich würde auch nie das Gegenteil behaupten. Ich möchte nur, dass du verstehst, wie Menschen in bestimmten Situationen empfinden.“
„Ich verstehe das, wirklich, Granny Jon. Ich kenne die Geschichte Irlands. Bei Mum und Dad war es gar nicht möglich, von dieser Geschichte nichts mitzubekommen.“
„Dein Vater wollte hierher kommen, nach Amerika. Natürlich war ihm klar, dass jedes Land mit seinen eigenen Problemen kämpfen muss. Aber wir hatten Familie im Norden.“
„Ich verstehe.“
„Ich bin nicht sicher, ob du das wirklich tust. In den letzten Jahren ist viel erreicht worden, um einen echten Frieden möglich zu machen. Der Waffenstillstand 1997, das Good Friday Agreement von 1998. Präsident Clinton war in Nordirland, um auf Frieden hinzuarbeiten. Aber du weißt so gut wie ich, dass es immer Menschen gibt, die zum Sterben bereit sind und denen es nichts ausmacht, für ihre Überzeugungen andere mit in den Tod zu reißen. Du darfst nur nie vergessen, Moira, dass wir stolz darauf sind, Iren zu sein, und dass du auch eine Irin bist.“
Moira stand auf und kniete sich neben den Sessel. „Es tut mir Leid, wenn du gedacht hast, ich wäre nicht auf euch alle stolz.“
Granny Jon strich ihr über das Haar. „Ich will nicht behaupten, dass es in Irland keine Probleme gibt. Aber weißt du, auch wenn wir uns hier vielleicht im wunderbarsten Land der Welt befinden – in Amerika gibt es ebenfalls Probleme.“
„Dass du wunderbar bist, habe ich immer schon gewusst“, sagte Moira, „aber mir war wohl noch nie klar, wie unglaublich klug du bist.“
Granny Jon grinste. „Manchmal … ja, es gibt Zeiten, da habe ich auch Angst. Aber jetzt geh nach unten, Mädchen. Geh und sing ‚Danny Boy‘ für deinen
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