Bote ins Jenseits
beanspruchte, ohne es zu wollen, die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden und genoss die ihr dargebotenen, herrlich entsetzten Mienen.
Gregor schien nicht übertrieben zu haben, wenn ihre bloße Anwesenheit die drei Schwergewichte vor Fassungslosigkeit neutralisierte. Während der Fahrt zur Niederlassung hatte er versucht ihr zu erklären, wie ausdrücklich verboten das war, was er gerade zu tun im Begriff war.
Die Niederlassung war eine Art Zweigstelle des Jenseits, wo nur Bedienstete des Jenseits arbeiteten und Zutritt hatten. Menschen durften das auf keinen Fall, denn sie durften gern glauben, aber auf keinen Fall wissen.
Da Gregor aber schon früher am Tage die Hosen runtergelassen hatte, war es jetzt im Prinzip auch egal.
Keiner der vier Bediensteten des Jenseits machte Anstalten, die entsetzte Stille zu brechen. So sah Heike sich genötigt, diesen Part zu übernehmen, und blickte zu einem Höllenqualen leidenden Gregor.
»Dann bin ich wohl wirklich der erste Mensch, der hier hinein darf?«, sagte sie mit gespielter Unschuld und verpasste Gregor damit einen weiteren schweren Körpertreffer.
»Äh… ja.«
Gregor nahm allen Mut zusammen und wagte es, in die Gesichter seiner Kollegen zu sehen, wo keinerlei Regung feststellbar war. Ihr Blick blieb starr an der jungen Frau haften, während sie dem Speisebrei in ihrem Mund noch etwas frische Luft gönnten, bevor er die lange Reise in den Verdauungstrakt antreten musste.
Es galt jetzt unter allen Umständen den Eindruck zu erwecken, dass er genau wusste, was er tat, und die Situation voll im Griff hatte.
»Also Jungs, das ist Heike Kamp. Die Schwester von Thore.«
Der mittlere Bote hob, als Zeichen zum Gruß, ganz langsam eine Hand. Sein Kollege zog sie beiläufig und ohne die junge Frau aus den Augen zu lassen, wieder runter.
Der dritte Bote begann, ebenfalls ganz langsam, die Kaubewegungen fortzusetzen.
»Du hast eine Sterbliche hierher gebracht!«, stellte der dritte Bote ungläubig fest.
»Weiß sie, wer… weiß sie Bescheid?«
In seinem Tonfall lag so etwas wie ein Rest Hoffnung, dass der Noch-Hauptbote Gregor wenigstens nicht so dämlich gewesen war, ihr zu erzählen, in was für eine Art Gebäude sie da gerade geführt wurde und mit wem sie es zu tun hatte.
»Ja, natürlich weiß sie das«, erwiderte Gregor, als wäre dies eine Selbstverständlichkeit.
Die drei Münder öffneten sich wieder, und die visuelle Aufmerksamkeit der Boten verlagerte sich synchron von der jungen Frau zu Gregor.
»Sie weiß, was wir sind?«, erklang es im Chor.
»So ist es.«
Gregor fragte sich, wem er gerade etwas vorspielte. Seinen Kollegen oder sich selbst. Er kaufte sich seine zur Schau getragene Unbeirrbarkeit selbst nicht ab und verfluchte sich inzwischen dafür, Kamps Schwester an diesen Ort gebracht zu haben.
»Du hättest uns darüber informieren müssen. Das ist ein gewaltiger Regelverstoß! Er wird dich dafür degradieren!«, sagte ein Bote.
»Wenn es gut für dich läuft!«, ergänzte ein anderer.
Gregor schüttelte gereizt den Kopf. »Lasst das meine Sorge sein! Ich habe meine Gründe. Für etwaige Konsequenzen übernehme ich die Verantwortung. Rumunken nützt jetzt ohnehin nichts mehr. Sie weiß Bescheid, und sie ist hier, basta!«
Die erheblichen Zweifel in den Gesichtern der Boten waren nicht zu übersehen, und Gregor wusste, dass sie recht hatten. Wenn er mit einer Degradierung davonkam, konnte er wirklich von Glück reden.
Wie hatten die Dinge nur so eine fatale Eigendynamik entwickeln können?
Es gab einen Haufen Regeln, die ein Bote des Jenseits bei der Ausübung seiner Pflichten zu beachten hatte. Viele waren unsinnig, und an den meisten konnte man sich ohne Probleme auch schon mal vergehen. Er brach gerade ausgerechnet eine von den Regeln, bei denen die Reaktion über ein gleichgültiges Schulterzucken mit großer Sicherheit hinausgehen würde. Er fragte sich, ob es das wirklich wert war, doch diese Überlegung kam eindeutig zu spät. Er hatte eine Entscheidung getroffen und würde jetzt nicht alles noch schlimmer machen, indem er kleinlaut den Schwanz einzog. Wenn er schon unterging, dann mit erhobenem Haupt, schließlich hatte er sich etwas dabei gedacht.
Mit Gewalt unterdrückte Gregor den Gedanken, dass ihm seine guten Vorsätze wahrscheinlich herzlich egal sein würden.
»Ich nehme an, es ist jetzt an der Zeit, eine weitere Katze aus dem Sack zu lassen«, behauptete er, ohne jedoch den Eindruck zu machen, von seinen eigenen Worten
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