Bote ins Jenseits
ersten Mal überhaupt stellte Kamp sich die Frage, mit der er sich besser schon ein paar Jahre früher befasst hätte. War nicht vielmehr er derjenige, der sie brauchte?
Daran war nur sein verdammter Vater schuld. Er hatte nie darum gebeten, der Sohn eines verantwortungslosen Halunken zu sein. Er hatte auch nie darum gebeten, im Teenageralter plötzlich zum Mann im Haus zu werden und sich um seine überforderte Mutter sowie seine hilflose, weil noch viel zu junge, kleine Schwester kümmern zu müssen. Aber es war erforderlich gewesen, und er hatte sein Schicksal angenommen.
Nie hatte ihn jemand gefragt, wie es ihm dabei ging, ob er vielleicht Hilfe brauchte. Als wäre es vollkommen normal, mit vierzehn eine derart belastende Situation zu meistern. Vielleicht hätte er sich einfach mal beklagen sollen. Er hätte zwar nicht gewusst bei wem, aber selbst wenn es da jemanden gegeben hätte – vielleicht seine Mutter, nachdem sie sich ein paar Jahre später endlich wieder gefangen hatte –, er hätte es sich nicht zugestanden. Dummer Stolz, falscher Stolz. Zu blöd, dass er erst jetzt darüber nachdachte, wo es ihm nichts mehr brachte.
Er fragte sich, wer ihm diesen Stolz vererbt hatte. Von seinem Vater konnte er ihn kaum haben, auch wenn er sich erinnerte, dass immer alle behaupteten, wie unglaublich ähnlich er seinem Vater doch sei.
Nicht gerade ein Kompliment.
Kamp kam ein Gedanke, und sein Kopf schnellte nach oben. Es war eigentlich absurd, aber er hatte im Laufe seines Lebens gelernt, dass weibliche Logik für einen Mann nicht immer nachvollziehbar sein musste.
Er drehte und wendete den Gedanken im Geiste von einer Seite auf die andere, sodass er nicht bemerkte, wie Gregor neben ihn trat, eine Büchse Bier öffnete und sie in eine Schale entleerte. Erst als der Bote ihm die Schale vor die Nase schob, brach er seine Grübelei ab. Er schnupperte daran und warf dem Boten einen irritierten Blick zu. Für einen Hund keine Selbstverständlichkeit.
»Ist es das, wonach es riecht?«
»Wenn du Bier riechst, lautet die Antwort Ja.«
Kamp bleckte angewidert die Zähne. »Ich trinke kein Bier. Selbst als Mensch hab ich das nicht.«
»Trink das!«
Etwas lag in der Stimme des Boten, das es ihm fast unmöglich machte, nicht zu gehorchen. Mit großer Mühe gelang es Kamps frustriertem Trotz, dem Gehorsam einen Punktsieg abzuringen.
»Ich mag kein Bier. Lass mich lieber in Ruhe zu Ende denken. Mir ist da vielleicht was eingefallen.«
Der Bote ließ sich nicht abwimmeln. »Hör mal, ich kann ja verstehen, dass du dich jetzt ziemlich beschissen fühlst. Du bist nicht mein erster Klient, der nach seinem Tod feststellen musste, sich in ein paar Dingen getäuscht zu haben. Das gehört einfach dazu. Ich kann und will dich jetzt auch nicht trösten, aber dies ist nicht die Zeit, um in Selbstmitleid zu baden. Willst du wissen, wer dich umgebracht hat oder nicht?«
Kamp reagierte nicht. Warum ließ er ihn nicht noch einen kurzen Moment in Ruhe?
»Jetzt pass mal gut auf. Du bist zu mir gekommen, nicht umgekehrt. Du hast um Hilfe gebeten, und ich habe mich in deine Dienste gestellt. Ich bin auch nach wie vor bereit, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um dir zu helfen. Wenn du jetzt aber auf stur stellst und resignieren möchtest, bei allem Verständnis für deine momentane Niedergeschlagenheit, dann sprich es offen aus! Wir werden dann innerhalb kürzester Zeit ins Jenseits zurückkehren. Dort kannst du meinetwegen eine Ewigkeit lang Trübsal blasen, während ich mich neuen Aufgaben widme und meine Zeit nicht mit jemandem verschwende, den es beim ersten stärkeren Gegenwind von den Füßen holt!«
Kamp warf dem Boten einen vernichtenden Blick zu.
»Warum hast du es so eilig? Warum kann ich nicht in Ruhe meinen Gedanken verfolgen. Ich hab doch gerade gesagt, dass mir vielleicht etwas eingefallen ist«, erwiderte er beleidigt.
»Wir sind hier auf der Erde. Dies ist der Ort für die Lebenden! Unsere Welt ist das Jenseits. Wir sind nur ausnahmsweise hier, um ein offenes Problem zu lösen, nicht um Urlaub zu machen. Man beobachtet uns und wird es nicht begrüßen, wenn wir dabei über Gebühr Zeit schinden. Vielleicht hätte ich dir das vorher sagen sollen, aber so ist es nun mal. Wenn wir zu sehr trödeln, kann es passieren, dass man uns vorzeitig zurückbeordert. Dann ist deine Chance auf Vergeltung für alle Zeiten vertan.«
Kamp blickte in Gregors Augen und entdeckte dort die Bestätigung der
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