Bote ins Jenseits
ist noch alles zu frisch für mich, und ich vermeide das Thema aus gutem Grund. Natürlich war er mir wichtig. Seit dem Verschwinden unseres Vaters und dem Tod unserer Mutter ist… war er mein einziger lebender Verwandter. Mein Bruder eben.«
Ihre Worte sollten beschwichtigend wirken, konnten aber angesichts dessen, was sie vorher gesagt hatte, nichts mehr retten.
Heike sah, wie es in ihrem Besucher arbeitete. »Lassen Sie sich nicht von meinem dummen Gerede irritieren. Ich stehe wohl noch unter Schock und habe hoffentlich mildernde Umstände«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln im Gesicht.
»Das ist doch ganz natürlich«, versicherte der Mann nonchalant. »Wie gesagt, ich kann da nicht mitreden, da ich von derlei Schicksalsschlägen bisher glücklicherweise verschont geblieben bin. Hab keine Ahnung, wie ich unter so einer psychischen Belastung reagieren würde.«
»Danke für Ihr Verständnis«, sagte sie kühl.
Für ihren Geschmack war dieser Tibbe ein ausgewiesener Schleimer, und sie fragte sich, warum ihr Bruder ausgerechnet mit so einem Kerl Freundschaft schloss. Sie hatte Thore deutlich wählerischer in Erinnerung.
Für ein paar Sekunden herrschte ein unangenehmes Schweigen. Ihr Besucher schien seine Gedanken ordnen zu müssen, und Heike wartete darauf, dass er endlich zum Thema kam. Sie hasste Situationen wie diese, und da der Mann keine Anstalten machte, etwas zu sagen, fühlte sie sich genötigt etwas zu unternehmen.
»Möchten Sie vielleicht die Fotos von Thores Beerdigung sehen?«, fragte sie ihn ein wenig hektisch.
Der Mann zog erfreut die Augenbrauen nach oben. »Eine gute Idee! Haben Sie denn welche hier?«
Heike sprang auf und sagte im Gehen: »Zufällig. Mein Chef war ein Arbeitskollege von Thore und hat mich gebeten, sie ihm mal zu zeigen. Als Thore beigesetzt wurde, lag er mit ‘ner dicken Grippe im Bett und konnte nicht dabei sein.«
Der Hund kläffte hektisch.
»Ach, weißt du was, mach dir keine Umstände. So wichtig ist es auch wieder nicht!«, rief der Mann ihr hinterher, aber sie war schon aus dem Raum verschwunden und murmelte abfällig eine nicht besonders freundliche Bemerkung.
Gregor hoffte, dass er sich mit dieser Fotoaktion kein Eigentor geschossen hatte. Er würde auf keinem der Bilder zu sehen sein, so viel stand fest. Wenn aber ausgerechnet der echte Peter Tibbe auf einem der Bilder abgelichtet war, bestand Gefahr für ihn und seine Geschichte. Kamp hatte es ihm zugebellt, aber da war es schon zu spät.
Heike Kamp kehrte mit einem Rucksack in der Hand zurück und sah den Mann ein wenig genervt an.
»Es macht mir keine Umstände, meinen Rucksack zu holen. Das bekomme ich gerade noch geregelt«, sagte sie, fischte einen Fotoumschlag heraus und drückte ihn ihrem Besucher in die Hand, um sich selbst wieder in ihren Sessel fallen zu lassen und eine weitere Zigarette zu entzünden. Der Hund sprang ihr sofort wieder auf den Schoß.
»Du schaust nicht mit?«, fragte der Mann beiläufig und fing sich dafür einen verständnislosen Blick von Heike ein.
»Ich kenne die Bilder bereits«, erwiderte sie so kühl wie knapp.
»Oh, wie dumm. Natürlich«, gab er zu.
Gregor öffnete den Klebeverschluss des Fotoumschlags und entnahm ihm die Bilder. Es wäre ihm am liebsten gewesen, wenn Thore zu ihm gekommen wäre, damit sie die Bilder gemeinsam auswerten konnten, aber sobald sich Heike wieder gesetzt hatte, sprang Kamp ihr erneut auf den Schoß und igelte sich ein.
Insgesamt waren es gerade mal acht Fotos, sechs davon mit Heike aus nächster Nähe, wie sie mit verweintem Gesicht einigen der Trauergäste die Hand schüttelte – keiner davon kam in Frage, der echte Peter Tibbe zu sein. Die beiden anderen Bilder wurden aus der Totalen aufgenommen und boten einen guten Überblick über die gesamte Trauergemeinde.
Gregor war jetzt endgültig erleichtert. Es mochten bestimmt um die hundert Menschen gewesen sein, die Thore die letzte Ehre erwiesen hatten, und der Fotograf hatte das Kunststück fertiggebracht, nur Hinterköpfe abzulichten.
Gregor starrte das aus der Totalen aufgenommene Foto an. Deutlich abseits der Trauergemeinde, ganz am Rande des Bildes, stand eine einzelne Person, die einzige auf dem Bild, die von vorn zu sehen war. Sie trug eine hellgraue Jacke mit weit heruntergezogener Kapuze und trotz des wolkenverhangenen Himmels eine Sonnenbrille.
Der Mann hielt Heike das Foto hin. »Weißt du zufällig, wer das da ist?«, fragte er und zeigte auf die
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