Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
der Frau wippte im Takt auf und ab und lud die Passanten zum Mittanzen ein.
Séfora hatte plötzlich Lust zu weinen. Noch gab es Leute, die einfach einen dieser modernen Apparate einschalteten, die mithilfe von Elektrizität Musik wiedergeben konnten, und damit ihre Botschaft in die Welt hinaustrugen. Eine Botschaft des Friedens, der Freude, der Rückkehr zur Unschuld, die wir beim Erwachsenwerden niemals begraben durften. Einen Drachen steigen lassen! Als wäre das die schwierigste Aufgabe auf der Welt. Und vielleicht war sie das.
Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken vom Gesicht. Sie war ein Dummkopf. Sie war in einer Zeit geboren worden, in der die größten Errungenschaften der Menschheit, gesellschaftlicher wie intellektueller Natur (die Europäische Union, die Relativitätstheorie, die UN-Menschenrechtscharta), noch in ferner Zukunft lagen. Nachdem sie in Fanar für ein paar Goldmünzen Obst verkauft hatte, mussten noch viele, viele Jahre vergehen, bis die Krieg führenden Mächte Europas etwas so Einfaches begriffen: dass der Krieg die Länder zugrunde richtet und ihnen nicht zum Wohlstand verhilft. Bis sie ihre Meinungsverschiedenheiten beiseite ließen und einen Vertrag der Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung unterzeichneten.
Séfora war Zeugin grausamer Hinrichtungen von Männern, Frauen und Kindern gewesen, als die Kreuzritter von Papst Innozenz III. in Konstantinopel einfielen, kurz bevor sie die Metropole plünderten. Solche Geschehnisse waren für den Optimismus in den Herzen der Menschen tödlich. Warum kämpfen, warum an die Liebe glauben in einer Welt voller Wahnsinniger, die in der Lage waren, für eine Handvoll Seide ein Kind zu töten?
Doch mit der Zeit waren die Ereignisse jener Tage aus ihrem Gedächtnis verschwunden, und zurück blieben nur die Gefühle, die sie in ihrem Innern gepflanzt hatten.
Das waren sehr düstere Gedanken für einen Engel, der doch als Vorkämpfer der Reinheit und Güte galt. Séfora aber hatte ihre traurige Seite nie ganz beiseiteschieben können, nicht einmal in den himmlischen Höhen.
In Momenten wie diesen aber, wenn sie so nah an der Erde war, dass sie die Musik einer Nussverkäuferin hören konnte, füllte sich ihr Herz mit Glück, und sie hörte in der Ferne wieder das Lachen der Kinder von Fanar, die weder Schwerter und Kreuze, noch Krummsäbel oder das Osmanische Reich kannten, sondern nur Lieder und Spiele.
Und obwohl sie geschwächt war, spürte sie eine neue Hoffnung in sich aufkeimen.
Komm, wir lassen einen Drachen steigen!
Sie riss sich von der fernen Stadt los, auf die sie ihren Blick geheftet hatte und die so viele Kilometer und Jahrhunderte entfernt lag. Es war an der Zeit zurückzukehren.
Sie wollte gerade aufstehen, als ihr ein stechender Schmerz in den Rücken fuhr.
Sie fuhr zusammen, rollte sich förmlich ein. Der Schmerz war brutal, durchdringend, eine Serie heftiger Schläge, die über ihrem Kopf spiralförmige Galaxien aufflammen ließen, gespenstische Feuerlandschaften mit Schmetterlingskometen. Und mit jedem Schlag nahm der Schmerz zu.
Sie versuchte, das Denken einzustellen, sich von den Empfindungen des Menschseins zu isolieren. In die herrliche Äther-Realität ihres Engeldaseins zurückzukehren. Sich in die Ruhe, den Frieden, die Existenz ohne Gefühle zu flüchten.
Allmählich ließen die Schläge nach. Tränen quollen ihr aus den Augen, aber nicht vor Kummer, auch nicht vor Rührung, sondern vor Schmerz.
Was war nur passiert? So ging es ihr jetzt schon, seit sie mit Tanya aus dem Hochhaus geflüchtet war, seit ihnen die Eisdolche der Dämonen um die Ohren geflogen waren.
Erschrocken versuchte sie, sich an die Stelle des Rückens zu fassen, wo ihre Flügel entsprangen.
Noch mehr Peitschenhiebe, noch einmal die spiralförmigen Galaxien.
Ein Splitter musste sie mitten im Flug getroffen haben. Sie hasste diese verdammten Dämonen so wie noch nie, diese widerlichen Kreaturen, die nur dazu da waren, um anderen zu schaden. Und das ohne jeden Grund: nur um zu existieren, mussten sie anderen schaden. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich über die Ungerechtigkeiten des Universums aufzuregen. Sie beschloss, sich ihren Groll für später aufzuheben. Vielleicht würde sie die Wut noch gebrauchen können.
Sie musste jemanden um Hilfe bitten, aber … wen? Ninive hatte keinen physischen Leib, sie konnte ihr nicht helfen. Sie kam sich vor wie ein Hund, der sich einen Stachel eingetreten hatte und
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