Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
einem Hinweis, der sie zu Erik führte. Doch Imerovigli war zu groß, um es in ein paar Minuten vollständig abzulaufen, sodass sich Tanya schließlich gegen eine Mauer lehnte, um Atem zu schöpfen.
»Warte!«, bat sie. »Ich muss mal kurz verschnaufen. Hast du eine Ahnung, wo wir eigentlich sind?«
»Keine Sorge. Ich weiß, wohin ich gehe.« Er zeigte auf die nächste Biegung. »Da vorne kommen wir zu einem Platz, von dem aus man das ganze Dorf überblicken kann. Wenn Erik hier herumläuft, werden wir ihn gleich haben.«
Tanya erstarrte, als ihr Blick von etwas magisch angezogen wurde, das sich direkt über Mauro befand.
»Ich glaube, das wird nicht mehr nötig sein«, flüsterte sie.
Noch indem Mauro sich umwandte, begriff er, was sie meinte.
Tanya hatte Erik gefunden.
Mehrere Figuren, die von einer Art schwarzem Lichtkranz umgeben waren, hoben Eriks Körper auf das Dach eines Mausoleums. Sie banden ihn mit ein paar Stricken an der Kuppel fest und verknoteten die Seilenden am Steinkreuz auf der Spitze des Gebäudes. Welche Wirkung auch immer die heiligen Symbole auf die vom Teufel Besessenen hatten, sie hinderten sie jedenfalls nicht daran, ihre Arbeit zu tun.
Erik war am Leben, aber in einer ausgesprochen schlechten Verfassung. Er sah aus, als wäre er gefoltert worden, sein Körper war an mehreren Stellen versengt. Außerdem schien jemand mit den Zähnen Stücke seiner Kleidung und der darunter liegenden Haut herausgerissen zu haben. Am schlimmsten schien eine Wunde am linken Bein, aus der das Blut in Strömen floss.
Aber er lebte, und das war das Einzige, was zählte.
»Wir müssen ihn retten«, sagte Mauro, als wäre diese Feststellung wirklich nötig. Gemeinsam rannten sie los, bogen um die nächste Ecke …
… und wurden von einer Horde aufgehalten, die sie schweigend anstarrte.
»Oh, oh«, stieß Tanya hervor, als sie die gut dreißig vom schwarzen Licht entstellten Gesichter sah.
Die Leute wirkten unauffällig, geradezu normal. Keiner von ihnen war besonders korpulent, nachlässig gekleidet oder sah aus wie ein Killer. Der Erscheinung nach handelte es sich um ganz normale Hausfrauen, Geschäftsleute und Beamte. Sogar ein paar Kinder waren darunter. Aber alle besaßen diese unverkennbar düstere, bedrohliche Aura.
Tanya vermutete, dass der Desmodu seine Anhänger unter der Inselbevölkerung willkürlich ausgewählt hatte. Er hatte von ihnen Besitz ergriffen, sie infiziert oder was auch immer mit ihnen gemacht, um sie in seine Gewalt zu bekommen. Offenbar suchte er sich seine Beute nicht gezielt nach bestimmten Charaktereigenschaften aus. Für ihn zählte die Masse, die Zahl. Jeder beliebige Dorfbewohner war ein geeigneter Kandidat, um dämonisiert und in seine Gefolgschaft aufgenommen zu werden. In diesem Moment begriff sie, was Séfora mit seinem »Heer« gemeint hatte.
Auch ihre Eltern befanden sich in der Menge. Sie musste sich sehr zusammennehmen, um ihnen nicht in die Arme zu laufen. Alles an ihr, Beine, Arme, ihr ganzes Sein verlangte danach. Aber auch sie waren in jenen dunklen, unheilvollen Glanz getaucht. Und Tanya wusste nur zu gut, was das bedeutete. »Papa, Mama«, schluchzte sie.
Mauro legte ihr tröstend eine Hand auf den Arm. »Keine Sorge, sie werden uns nichts tun«, versicherte er ihr.
»Was redest du da?«, rief Tanya aufgebracht. »Bist du jetzt übergeschnappt? Das hier sind seine Sklaven!« Dann zeigte sie auf die riesige geflügelte Gestalt, die wieder zwischen den Wolken aufgetaucht war. Der Desmodu kam zurück.
Mauros Blick war ernst, aber gelassen. »Nein. Ich werde sie aufhalten. Ich kann ihre Klagen hören. Ich verstehe ihr Leid. Und ich glaube, dass ich … ihnen helfen kann.«
»Und wie?«
Die Zombies kamen auf sie zu, langsam, siegessicher. Erik schrie sich die Kehle aus dem Leib vor Schmerzen und kämpfte vergeblich gegen die Stricke an, die ihn an die Kuppel fesselten. Er sah aus wie die Galionsfigur eines dämonischen Schiffes.
»Ganz einfach. Ich werde ihren Bitten Gehör schenken«, meinte Mauro und schloss die Augen.
Es war genau so, wie Ninive es vorausgesagt hatte. Schon die Suche nach der Kraft in seinem Innern war der Hauch, der sie zum Leben erweckte, der Schlüssel, der die Büchse der Pandora aufschloss und das himmlische Vermächtnis freigab, das so unvorhersehbar wie unbekannt war. Und Mauro wusste genau, wohin er seine Aufmerksamkeit richten musste: auf die Stimmen. Die Todesqualen. Den Fluss, der wie siedendes Öl durch sein Inneres
Weitere Kostenlose Bücher