Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
würde, in einem kleinen behaglichen Winkel ihres Herzens.
Trotzdem. Da Ninive nicht mehr da war, hatte Séfora das Gefühl, sie mehr denn je zu brauchen.
Passiert nicht genau das, wenn man eine Mutter verliert? Tanya hielt die Hände schützend vors Gesicht. Der Touristenführer hatte einen Eimer Wasser in das Loch im Boden gekippt, und alle wussten, was das bedeutete. Einige der Umstehenden befeuchteten sogar ihren Zeigefinger, um die Windrichtung zu bestimmen und sich dann so hinzustellen, dass die Fontäne des Geysirs nicht auf sie niederging.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis die glühende Erde die Flüssigkeit geschluckt hatte. Dann aber dröhnte es, und eine weiße Gaswolke quoll mit zornigem Gebrüll aus den Eingeweiden der Insel empor. Lanzarote war der Rücken eines schlafenden Drachen, auf dem die Menschen Häuser, Brücken und Autobahnen zu bauen beschlossen hatten, aber sein Brustkorb hob und senkte sich rastlos in der Tiefe und sein Atem verwandelte Wind und Salz in Feuer.
Die heißen Regentropfen prasselten auf die weniger bedachten Touristen nieder und entlockten ihnen erstaunte Ausrufe. Tanya nahm in letzter Sekunde die Hände vom Gesicht und ließ sich vom Drachenblut besprengen. Es war wie eine Feuertaufe. Ihre Eltern lachten.
Wie sonderbar, dass sie sich für ihren Urlaub wieder eine vulkanische Insel ausgesucht hatten! Ihre Eltern erinnerten sich kaum noch an das, was auf dem Nea Kameni passiert war, an den gigantischen Lavastrahl, an das Seebeben, das den Luxusdampfer an die Küste geschleudert hatte, an das Getöse der titanischen Schiffsschrauben, die mit voller Wucht auf den Felsen krachten. Sie aber erinnerte sich noch gut. Trotzdem hatte sie dem Vorschlag ihres Vaters nicht widersprochen. Schließlich war Lanzarote eine völlig andere Insel. Sie unterschied sich schon deshalb deutlich von Santorin, weil es auf ihr keine Dämonen gab.
Das hoffte sie zumindest.
»Geht es dir gut, Schatz?«, erkundigte sich ihre Mutter.
Auf diese Frage war Tanya nicht vorbereitet. Denn sie wusste nicht, dass sich in ihrem Blick noch immer Traurigkeit spiegelte.
»Mir? Ja, natürlich. Warum sollte es mir nicht gut gehen?«
»Seit Wochen wirkst du so bedrückt. Als wärst du gar nicht mehr du selbst. Du warst doch immer so fröhlich und unbeschwert.«
Tanya streichelte ihrer Mutter die Wange.
»Ich bin immer noch ich, Mama. Ehrenwort. Ich bin sogar mehr ich denn je. Obwohl ich es dir nicht genau erklären kann.«
»Natürlich kannst du es erklären. Du bist reifer geworden.«
In den darauf folgenden Stunden drehte sich die Unterhaltung um andere Themen, die insbesondere mit der Umgebung und der Planung des weiteren Tages zu tun hatten. Aber als sie am Abend wieder das Hotelzimmer betraten und es nichts anderes mehr zu besprechen gab (sie hatten sogar schon ihre letzte Karte ausgespielt und über das Wetter geredet), kam ihr Vater schließlich zur Sache: »Wir wissen, dass dir etwas passiert ist, während wir … krank waren. Deine Mutter und ich wollen, oder vielmehr wir müssen wissen, was es ist.«
Tanya ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. Die Situation erinnerte sie an ihre Kindheit, wenn sie mal wieder besonders groben Unfug getrieben hatte und gleichsam vor einem Tribunal ihre Motive erklären musste.
»Ich … muss euch etwas beichten, das ist wahr. Ich weiß aber nicht, wie euch die Neuigkeiten bekommen werden. So etwas erzählt man auch nicht einfach so. Es ist wirklich schwer zu erklären … na ja, zumindest weiß ich nicht, ob ich es kann.«
Die Blicke, die ihre Eltern vor ihr tauschten, waren mehr als vielsagend. Vor ihrem inneren Auge tanzten Windeln und Babyfläschchen einen lustigen Ringelreigen.
»Hör zu, Tanya«, begann ihre Mutter. Ihre Hände zitterten. »Dein Vater und ich haben schon über die Möglichkeit gesprochen, dass du … na ja, dass du uns eine Nachricht überbringen könntest, die dein Leben entscheidend verändern wird. Wir haben immer versucht, dich vor den Risiken zu warnen, schon als kleines Mädchen, aber wenn jetzt der Augenblick gekommen ist, es auszusprechen, dann sollst du wissen, dass wir hinter dir stehen. Immer.«
»So ist es«, bekräftigte Iljitsch. »Und wenn wir uns einer persönlichen und wirtschaftlichen Veränderung stellen müssen, dann werden wir das tun. Wir bitten dich nur um eines: dass du ehrlich zu uns bist. Damit wir drei an der gleichen Front kämpfen. Denn immerhin geht es um unsere Familie. Um deine Familie.«
Tanya dachte
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