Bottini, Oliver - Louise Boni 01
zurückgezogen, als hätte auch er jetzt ein Zwischenreich betreten. Sie hatten ihn ganz verloren.
«Scheiße», stieß sie hervor.
«Bleiben Sie bitte höflich», sagte Richard Landen.
«Scheißdreck. Versuchen Sie’s noch mal.»
«Er wird nicht antworten. Akzeptieren Sie das.»
Sie trat dicht an den Mönch heran. Der vertraute, strenge Geruch stieg ihr in die Nase. Er weckte Erinnerungen: der Marsch durch den Wald, die Wärme im Hohlraum hinter den Felsen, das Gefühl inneren Friedens. «Möchtest du, dass ich heute Nacht auf dich aufpasse? Möchtest du, dass ich hier bin, falls die wiederkommen? Möchtest du das?»
Landen übersetzte.
Der Mönch sah sie an. « No », antwortete er.
« Sayonar a», sagte sie und wandte sich ab. Sie hörte Landen sprechen, dann sprach der Mönch, dann wieder Landen. Dann knirschten Schuhe im Schnee.
Landen hatte sie rasch eingeholt. «Sie müssen eines begreifen», sagte er. «Er ist anders als Sie. Er denkt anders, glaubt anders, empfindet anders und lebt anders. Vollkommen anders.»
«Und was soll das heißen?»
«Dass Sie das, was er tut oder sagt, nie verstehen werden. Schon gar nicht, warum er es tut oder sagt oder eben nicht sagt.»
Sie blieben stehen. Landens Augenbraue war an der grauen Stelle leicht nach unten eingeknickt. Er sagte: «Sie würden ihn nie wirklich verstehen, selbst wenn Sie jetzt mehr über ihn wüssten.»
«Das seh ich anders.»
«Ich weiß. So denken die meisten. Niemand will sich bewusst machen, dass man einen anderen Menschen nie wirklich verstehen kann. Schon gar nicht einen Menschen aus einem vollkommen anderen Kulturkreis.»
Louise blickte zurück. Der Mönch war tief ins Grau eingetaucht. Einige Dutzend Meter weiter endete die Dämmerung in einer schwarzen Front. Bald würde ihn der Wald verschlucken.
Auf der anderen Seite kniete Niksch vor dem Streifenwagen und zog Schneeketten auf. Hollerer und Lederle schauten in ihre Richtung. Vor Hollerers Gesicht bildeten sich voluminöse Atemwolken, vor Lederles Gesicht flogen kaum sichtbare Wattebällchen herum.
Sie sah Landen an. «Ich kapier immer noch nicht, was das heißen soll. Was mache ich mit jemandem, den ich angeblich nie verstehen werde? Überlasse ich ihn deshalb seinem Schicksal? Wollen Sie das damit sagen? Bloß weil er anders ist? Was ist das für ein Scheißdreck?»
«Nur die Ruhe», sagte Landen.
«Sie sind gut.»
«Sie sollen ihn nicht seinem Schicksal überlassen, Sie sollen ihn respektieren und …‼
※… und ihn dann seinem Schicksal überlassen.»
«Lassen Sie mich ausreden.» Landen hatte die Stimme gehoben. Leiser fuhr er fort: «Sie sollen ihn respektieren, und das ist sehr schwer. Es wäre die Meisterleistung des aufgeklärten Menschen, weil es das Schwierigste ist, das man sich vorstellen kann: Einen Menschen, den man nicht versteht, zu respektieren.» Der Knick in der Augenbraue verschwand.
Landen musterte sie wachsam. Verdächtige waren auf diese Weise wachsam, wenn sie befürchteten, sich verraten zu haben. Was ging in ihm vor?
Sie beschloss, nicht nachzufragen. Nicht jetzt zumindest. Sie grinste. «Verstehen, respektieren … Sind Sie ein Moralapostel oder was?»
Landen lächelte. «Sagen wir so: Der Terminus
‹Apostel› kommt aus der falschen Religion.»
Als sie weitergingen, sagte er: «Geben Sie ihn nicht auf.»
«Ich geb ihn nicht auf. Ich bin nur sauer auf ihn.»
«Das würde er zum Beispiel nie verstehen.» Landen hielt wieder inne. Das Grau fuhr mit einer Hand nach oben. Durch seine Augen zuckte sekundenlang ein inniges Flackern. Er sagte, sie dürfe nie vergessen, dass hinter fremden Gesichtern, hinter dem Anders-sein, ein unendliches, faszinierendes Universum an Gedanken, Gefühlen, Erfahrungen liege. Tausende Fragen und Antworten, die sich nicht so sehr von ihren unterschieden, nur aus einem anderen Blickwin-kel entstanden seien, der ihre Fragen und Antworten in einem neuen Licht erscheinen lasse, wenn sie es gestatte.
Louise hatte Mühe zuzuhören. Ihr Blick war auf die Augenbraue gerichtet, diesen merkwürdig lebendigen grauen Fleck, der sie zugleich irritierte und anzog.
Plötzlich gerieten in ihr mysteriöse Dinge in Fluss.
Durch ihren Körper strömte Wärme, die Haut prickel-te, ihre Kehle hatte sich verengt.
Auch das noch, dachte sie.
Die Augenbraue streckte sich, als hätte sie ihr Werk getan und könnte nun ruhen.
Verärgert wandte sie sich ab.
Von dort, wo die Autos standen, war der Mönch nicht mehr zu sehen. Für
Weitere Kostenlose Bücher