Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Louise versprach es und hinterließ ihre Handy-Nummer.
«Ich bin die nächsten Tage unterwegs», sagte sie.
Nachdem sie aufgelegt hatte, blieb sie auf dem Sofa sitzen und versuchte, sich zu erinnern, wann sie beschlossen hatte wegzufahren. Und vor allem: Weshalb sie beschlossen hatte, ausgerechnet dorthin zu fahren.
Sie zog die Vorhänge vor und schwor sich, sie erst wieder zu öffnen, wenn draußen von Schnee nichts mehr zu sehen war.
Im Treppenhaus begegnete ihr eine junge Frau. Sie war schlank und blond und hatte ein ausgesprochen hübsches Puppengesicht. Eine Bermann-Frau. «Ich habe mir Sorgen gemacht», sagte die Bermann-Frau verlegen, und Louise erkannte die Stimme von Katrin Rein.
«Nicht nötig.»
Katrin Rein versperrte ihr zögernd den Weg, hielt aber die Anstandsdistanz ein. Sie blickte auf die Reisetasche. «Louise, wir …‼
Louise blieb stehen und hob warnend eine Hand.
Sie sahen sich eine Weile an, dann nickte Katrin Rein.
«Entschuldigung. Rufen Sie mich an?»
«In ein paar Tagen.»
Katrin Rein trat zur Seite. Ihr scheues Lächeln wirkte aufrichtig.
Als Louise in der Tiefgarage in ihrem Mégane saß, schienen sich die Ereignisse vom Samstag zu wiederholen, als würde alles von vorn beginnen: Die Auffahrt vor ihr wackelte, die Betonpfeiler bewegten sich, aus dem Aufzug trat verschwimmend Ronescu. Ge-bückt schlurfte er in seiner wackligen Aura an ihr vorbei. Das graue, fleischige Hundegesicht sah starr und schwermütig aus. Sie versprach ihm im Stillen, dass sie den Tuica-Abend nachholen würden.
Diesmal machte sie ihn nicht auf sich aufmerksam.
Und diesmal nahm sie kein Taxi, sondern steuerte den Mégane aus der Tiefgarage in den Januar hinaus.
II.
DAS KANZAN-AN
7
DAS DORF WAR KLEINER, als sie es in Erinnerung hatte. Plötzlich wichen die Häuser zu beiden Seiten des Sträßchens zurück, hüllte vollkommene Finsternis den Wagen ein. Sie wendete und fuhr im Schritttempo zurück. Nur wenige Fenster waren noch erleuchtet.
Erneut wäre sie beinahe am Haus ihrer Mutter vor-beigefahren. Sie hätte schwören können, dass es im vergangenen Jahr dunkelbraun gestrichen gewesen war. Jetzt war es gelb.
Als sie ausstieg, fröstelte sie. In der nördlichen Provence hatte es nicht geschneit, doch der kalte Nacht-wind roch nach Schnee.
Es dauerte lange, bis ihre Mutter öffnete. Sie trug einen Schlafanzug, die grauen Haare waren offen, das Gesicht dunkel von der Sonne. Überrascht zog sie die Brauen hoch. «Na, weißt du», sagte sie. «Hier kommen nachts bloß die Halsabschneider und die Toten unangemeldet.»
Sie umarmten sich flüchtig.
«Hast du das Haus gestrichen?»
«Nur die Vorderseite, dann hatte ich keine Lust mehr.»
Louise trat in die kleine Wohnstube und stellte die Tasche ab. Im Kamin knisterten verglühende Kohlen.
Ein neuer alter Sessel, das Sofa umgestellt, sonst hatte sich seit letztem Januar nichts verändert. Ihr Blick glitt über die wenigen Fotos auf dem kleinen Sekretär, vor den Fenstern. Wie immer ausschließlich fremde Gesichter, fremde Landschaften. Keine Familienfotos, nicht in diesem Raum, nicht in den anderen.
Sie wandte sich um. «Du kannst die Tür zumachen, Mick ist nicht mitgekommen.»
Sie saßen einander am Küchentisch gegenüber. Vor Louise lagen Brot, Käse, Schinken. In Reichweite standen eine halb volle Flasche Rotwein und ein Glas.
Sie bemühte sich, die Flasche zu ignorieren.
Ihre Mutter hatte sich eine dunkelbraune Wolldecke um die Schultern gelegt und beobachtete sie beim Essen. Mit der Decke, den offenen Haaren und dem dunklen Teint sah sie, fand Louise, beinahe wie eine Indianerin aus. Und in gewisser Weise war sie das auch: Sie war eine Kriegerin. Zeit ihres Lebens hatte sie Krieg geführt. Gegen die Gesellschaft, gegen das Patriarchat, gegen die Politik, gegen den Ehemann.
«Ich war gestern in Günterstal.»
«Und?»
«Filbinger lebt da. Ich dachte, das weißt du.»
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. «Ich habe vor vielen Jahren aufgehört, an ihn zu denken. An ihn und all die anderen. Hier» – sie hob die Arme – «sind sie nicht mehr wichtig.»
«Dann hätten wir in den Siebzigern hierherziehen sollen, Papa, Germain, du und ich.»
«Ja, vielleicht», erwiderte ihre Mutter. Sie stand auf.
«Erzähl mir morgen, warum du hier bist. Heute bin ich zu müde.»
Der Tag ihrer Mutter begann in der Nacht. Sie hör-te sie um fünf im Bad im Obergeschoss, dann kam sie summend die Treppe herunter. In der Küche, vielleicht angesichts
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