Bottini, Oliver - Louise Boni 01
zu lauschen, aber es war nichts zu hören.
Unmittelbar bevor sie den Wald betrat, ging der Mond auf.
An einem Bach endeten die Spuren. Sie ließ sich auf die Knie fallen, um Atem zu schöpfen. Die kalte Luft schnitt ihr in die Lungen, Stirn und Ohren schmerzten. Das Plätschern des Wassers klang fröhlich und ermutigend. Keuchend versuchte sie, die bleiche Dunkelheit mit dem Blick zu durchdringen.
Nichts.
Nur die Gesichter der Mädchen und der Mutter.
Nikki lebt, sagten sie, und Louise kam mühsam auf die Beine. Ja, sagte sie, er lebt, und ich bringe ihn euch zurück.
Mit großen Schritten sprang sie durch den Bach.
Erschrocken bemerkte sie, dass sie die Kälte des Wassers nicht wahrnahm.
Die Spuren vermischten sich, wurden auf dem schmalen Pfad zu einer einzigen Fährte. Drei, vier Meter lang ging es steil nach unten. Auf der Schräge und unten lag kein Schnee. Aber der Pfad war deutlich zu erkennen. Sie lief weiter.
Da sah sie neben einem Baum ein wenig abseits des Weges einen dunklen Körper liegen. Sie erstarrte, als sie das Grün und Beige einer Polizeiuniform erkannte
– aber Niksch konnte es nicht sein, Niksch war schmaler und länger, und als sie neben dem Toten kniete, der auf dem Bauch lag, dachte sie, dass Nikschs Hän-de zierlicher und hübscher waren und seine Haare heller. Vorsichtig hob sie die Leiche an einer Schulter an. Für einen Moment glaubte sie, es wäre doch Niksch, aber der tote Beamte sah Niksch nur ähnlich, war auch jung und sehr schmal im Gesicht. Sie strich ihm Erdreich von der Wange, dann ließ sie ihn sanft zurückgleiten.
Die Uniformjacke war von Blut durchtränkt. Sie hatten ihn von hinten in Kopf und Rücken geschossen, dann hatten sie ihn vom Pfad weggeschleift.
Ein schwer Verletzter, ein Toter … Sie wusste, was Bermann vorhin gedacht hatte: Wenn du ein Mann wärst, hättest du dich durchgesetzt. Du hättest eine Armada losgeschickt. Du hättest mich überzeugt. Du hättest all das verhindert.
Sie richtete sich auf. Wohin? Dem Pfad folgen? Sie ging zu dem Weg zurück. Dort blieb sie stehen. Sie spürte, dass sie kaum noch Kraft hatte. Dann knickten ihr die Beine weg. Der Waldboden war weich. Sie rollte sich auf den Rücken, starrte auf den Halbmond schräg über sich.
Nach einem Moment kam sie mühsam auf die Beine und ging weiter.
Aber sie fand keine Spuren mehr. Zehn, fünfzehn Minuten vergingen, vielleicht auch ein paar Stunden, sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Sie folgte dem Pfad, bog nach links ab, kehrte zum Weg zurück, bog nach rechts ab. Kein Schnee mehr, keine Spuren. In immer kürzeren Abständen musste sie sich setzen.
Ihre Beine spürte sie bis zu den Knien nicht mehr, in ihrer Lunge sprang ein Ball aus Eis auf und ab. Sie zitterte unkontrolliert. Einmal stand sie am Waldrand und blickte auf ein stummes, dünn beschneites Feld, das im Mondlicht wächsern schimmerte. Reifenspuren zogen sich im Schneematsch am Saum des Waldes entlang. Sie stammten von relativ breiten Reifen, vielleicht einem Off-Roader. Wann sie entstanden waren, ließ sich nicht sagen. An einem anderen Tag hätte sie Vermutungen anstellen können, nicht an diesem.
Die Reifenspuren verloren sich in der Dunkelheit.
Sie kehrte in den Wald zurück, lief in entgegenge-setzter Richtung. Im matschigen Erdreich entdeckte sie plötzlich eine Spur, die sie bislang noch nicht gesehen hatte: Abdrücke von Kinderschuhen.
Das Kind war gerannt. Nach vier Metern wurde der Boden fester, auch diese Spuren endeten. Ein Kind, das im Wald gespielt hatte? Wo waren dann die Spuren anderer Kinder, der Eltern, eines Hundes?
In der Ferne erklang das tiefe, einsame Brummen eines Helikopters. Das Geräusch blieb konstant leise.
Sie fiel auf die Knie, umschlang den Oberkörper mit den Armen und zog das Kinn an die Brust. Sie brachten Hollerer fort.
Dann kehrte sie zu dem jungen Polizisten zurück.
Zum ersten Mal fragte sie sich, wer er sein mochte und wie er hierher gekommen war. Verwirrt bemerkte sie, dass sie sich, obwohl der Polizist nicht Niksch war, so fühlte, als wäre er es gewesen.
Vorsichtig drehte sie ihn um. Sie setzte sich an den Baumstamm und zog ihn an sich. Er war so schmal, dass sie die Hände vor seinem Bauch schließen konnte. Über ihr schwebte der halbe Mond. Er sah matt und kraftlos aus und schien sich nur mühsam am Himmel zu halten.
Sie begann, mit dem Toten zu sprechen. Sie fragte ihn nach seinem Namen, was er hier getan hatte, ob er Niksch und dem Mönch begegnet war.
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