Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Erzählte ihm von Niksch, der Rallyes fuhr, und Theres, die auch Rallyes fuhr.
Irgendwann später erklangen in der Ferne Rufe und Hundegebell, sprangen kreisrunde Lichter zwischen den Bäumen umher. Über ihr näherte sich ein weiterer Helikopter, ein mächtiger Suchscheinwerfer zerteilte die Dunkelheit.
Jetzt, sagte sie zu dem Toten, finden wir sie.
Da erst wurde ihr bewusst, dass die Gesichter der Mutter und der Schwestern nicht wiedergekommen waren. Es dauerte einen weiteren Moment, bis sie begriff, was das bedeutete.
6
IHRE ZEIT IM KRANKENSTAND begann am selben Tag um sechs Uhr morgens. Almenbroich zog ihre Hand an seine Brust und wünschte ihr streng, aber aufrichtig alles Gute. Sie nickte und verließ die Direktion. Auf dem Gehweg knackte gefrorener Schnee unter ihren Schuhen. Sie blieb stehen und überlegte, wohin sie gehen, was sie tun sollte. Aus irgendeinem Grund schien es unmöglich zu sein, in einer Welt oh-ne Niksch Entscheidungen zu treffen.
Bermann hatte lange gewartet. Sie hatte ihn beobachtet, im Gespräch mit Almenbroich, der aus dem Bett geholt worden war, im Zentrum der schweigsa-men, bislang erst zehnköpfigen Soko Liebau, die sich um ihn und sie und drei Kannen Kaffee versammelt hatte. Er war erschöpft und angespannt, aber er wirkte nachdenklicher als sonst. Er machte sich die Entscheidung nicht einfach. Es schien auch ein gewichti-ges Dagegen zu geben.
Dann tat er es doch, nahm Almenbroich beiseite und sprach ernst auf ihn ein. Almenbroich fuhr sich mechanisch mit der Hand über die hohe Stirn. Sein Blick glitt durch den Raum und blieb auf ihr haften.
Überraschung lag nicht darin, nur Entschlossenheit.
Anne Wallmer trat mit einem Pullover in der Hand zwischen sie und Almenbroichs Blick. Er hatte einen V-Ausschnitt und war schwarz. Louise nahm ihn. Sie kam nur mit Mühe aus ihrem Pullover. Die Vorderseite war schwer und feucht von Nikschs Blut.
Anne Wallmer lächelte aufmunternd und ging. Ihren Pullover nahm sie mit.
Später holten sie sie dazu. Sie hatte erwartet, dass Prader, der Suchtberater der Direktion, anwesend sein würde, aber er war nicht da. In Almenbroichs Büro beendete Bermann sanft, was er am Nachmittag zuvor begonnen hatte. Krankschreibung, Entzug, Innendienst. Der Abgrund wurde für einen kurzen Moment zum Rettungsanker.
Almenbroich musste nicht erst überzeugt werden.
Auch ihm waren, sagte er, «die Begleiterscheinungen»
längst aufgefallen: Flaschen hier und da, der Geruch, unerklärliche Stimmungs- und Energieschwankun-gen, geistige Absenzen, «gewisse, äh, Teintprobleme».
Er hatte die Ellenbogen auf die Lehnen seines Sessels gestützt, die Fingerspitzen beider Hände berührten sich in einem unruhigen Dreieck. Er ließ Louise nicht einen Moment lang aus den Augen. Sein Blick war väterlich und unnachgiebig. Das Händedreieck wurde zu einem kantigen Kreis, der Kreis wieder zum Dreieck. Seine Enttäuschung war nicht sichtbar, doch sie spürte sie am ganzen Leib. Kalt kroch sie ihr in jede Körperfaser.
Während sie dem Echo seiner Worte in ihrem Kopf nachlauschte, wurde ihr bewusst, dass er eine Alkoholikerin beschrieben hatte. Für einen Moment flackerte müde Empörung in ihr auf. Doch sie unterließ es, ihm den Unterschied zu erklären. Almenbroich hatte lange einen Verdacht gehabt, der leicht zu ignorieren gewesen war. Jetzt waren ein Zeuge und ein knappes Geständnis dazugekommen. Für subtile Unterschiede war da kein Raum mehr. Es gab Definitio-nen, Verhaltensvorschriften, es gab gesund und krank, und sie hatten sie sich krankgeredet.
Sie war nicht einmal erstaunt darüber, dass Bermann und Almenbroich sämtliche Zwischenschritte übersprangen. Keine vertraulichen Gespräche, keine Hilfsangebote, keine Termine bei Prader, keine Schon-frist, keine Abmahnungen. Sie wurde sofort ausgemustert.
Doch das war jetzt nicht mehr wichtig. Nur dass Niksch nicht mehr lebte, war wichtig. Und dass Hollerer vielleicht bald starb.
Sie ließ Bermann noch einen Moment Zeit, um ihr die Schuld an dem zu geben, was geschehen war. Als er schwieg, stand sie auf.
«Eins noch», sagte Bermann.
Sie wandte sich ihm zu. Hinter ihren Ohren begann es zu kribbeln. Das dunkle Loch in ihr öffnete sich, heiße Wut strömte heraus und verdrängte Almenbroichs Enttäuschung, die sich in ihr eingenistet hatte.
«Und zwar?» Sie schluckte und wartete darauf, dass Bermann ihr endlich einen Grund lieferte, ihn zu schlagen.
Er zögerte. «Das Ganze hätte nie passieren dürfen
…
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