Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Familie ihres Vaters stammte aus den Vogesen.
Freundliche Lehrer, Priester, Krämer aus Gérardmer, demütige Katholiken, die das Leben in kleinen, engen Räumen abarbeiteten. Zum ersten Mal versuchte sie, sich vorzustellen, welches Erdbeben Gérardmer erschüttert haben musste, als ihr Vater eine protestanti-sche Deutsche durch den niedrigen Türstock seines Geburtshauses geführt hatte. Ob er gewusst hatte, was er tat? Hatte er nur außerhalb der Traditionen geheiratet, um auf friedliche, aber endgültige Weise Abstand zu schaffen?
Jedenfalls war es ihm nur halb gelungen. Die freundlichen Katholiken aus Gérardmer hatten die Arme ausgebreitet und das doppelt vom Schicksal bestrafte Mädchen in ihrer Mitte aufgenommen.
Kurz darauf holte Lederle tief Luft und sagte:
«Achtundfünfzig Kinder seit 1997. Wo sind sie, Louise? Was ist mit ihnen geschehen? Leben sie hier irgendwo in der Nähe? Für wie viele von ihnen ist das Leben ein einziges Martyrium? Wie viele dieser achtundfünfzig Kinder wurden an Eltern verkauft, die kein Kind wollten, sondern ein Sexobjekt? Alle Kinder, die etwas älter sind? Das sind einundzwanzig.
Einundzwanzig der achtundfünfzig Kinder sind über sechs Jahre. Sind diese einundzwanzig Kinder Opfer von sexuellem Missbrauch geworden, Louise? Sind sie verkauft worden? Oder werden sie bei Bedarf für ein paar Tage oder Wochen an Kinderschänder oder Pornoproduzenten verliehen? Das sind die Fragen, die ich mir seit Tagen stelle. Aber weißt du, weshalb ich nicht mehr schlafen kann?»
Sie schwieg.
«Ich kann nicht mehr schlafen, weil ich keine Antwort auf die Frage finde, ob man Menschen moralisch verurteilen kann, die sich so sehr nach einem Adoptivkind sehnen, dass sie es sich auf illegalen Wegen mit Geld beschaffen, weil es auf legalen nicht geht.
Das ist meine Frage, Louise. Kann man diese Menschen moralisch verurteilen? Ja, ich weiß – Kinder werden auf diese Weise zu Waren degradiert, nicht das Wohl der Kinder steht im Vordergrund, sondern das der Adoptiveltern, die Nachfrage bestimmt das Angebot und so weiter. Das ist alles richtig. Aber ich frage mich: Woher sollen wir Menschen die Reife nehmen, um mit unserer Sehnsucht nach einem Kind fertig zu werden, wenn wir auch den Geldbeutel zü-
cken können? Wenn wir wissen, dass wir einem Neu-geborenen aus Asien oder Osteuropa oder Südameri-ka damit ein besseres Leben ermöglichen als im Waisenhaus in seiner Heimat? Wir kaufen alles, Louise, wir kaufen Tiere, Gesundheit, Land, Freizeit, Schönheit, Liebe – wie um Gottes willen sollen wir Kauf-menschen begreifen, dass es trotzdem eine Grenze gibt, die wir nicht überschreiten dürfen? Woher sollen wir die innere Kraft nehmen, abstrakte Werte ausgerechnet über unsere womöglich größte Sehnsucht zu stellen?»
Lederle brach erschöpft ab. Sein Atem ging schnell.
Louise wusste nicht, ob er eine Antwort erwartete.
Schon gar nicht, was sie hätte antworten sollen. Ihr fielen nur zwei Menschen ein, denen sie es zugetraut hätte, auf diese Fragen zu antworten: Barbara Franke und der Roshi. Barbara Franke hätte vielleicht gesagt, der Kauf eines Adoptivkindes und Kindesmissbrauch seien nur zwei Seiten derselben Medaille. Der Status des Kindes sei derselbe: Es sei eine Ware. Der Roshi hätte vielleicht gesagt, dass man mit sich selbst im Reinen sein müsse, um die innere Kraft aufzubringen, von der Lederle sprach.
Auf dem Rest der Strecke dachte sie darüber nach, wie sie Antworten auf solche und andere Fragen finden sollte, solange sie Alkohol brauchte, um das Leben zu ertragen. Und darüber, dass sowohl dem Be-dürfnis nach Alkohol als auch der in diesem Fall fatalen Sehnsucht nach einem Adoptivkind dasselbe zu-grunde lag: die Begierde der Seele, Richard Landen zufolge die Ursache allen Leides.
In einem winzigen Dorf, das noch in vollkommener Dunkelheit lag, stießen sie auf eine Wagenkolonne der Franzosen. Chervel, Justin und Bermann befanden sich bei ihnen. Bermann grunzte überrascht, als er sie sah. Chervel und Justin reichten ihr schweigend die Hand.
Sie stieg mit Lederle in einen Citroën. Zwei farbige, uniformierte Beamte saßen vorn.
«Du hast es ihm nicht gesagt?»
«Er muss nicht alles wissen.»
Sie sah Lederle an. Er hatte sich in den letzten Wochen verändert. Er wirkte trotziger und fatalistischer.
Sie fragte sich, wie Antonias Chemotherapie bislang verlaufen sein mochte. Aber sie traute sich nicht, die Frage auszusprechen. Falls seine Miene, die halbge-schlossenen
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