Bottini, Oliver - Louise Boni 01
auf.
«Was ist mit den Namen? Sind die echt?»
Lederle nickte. «Sieht so aus.»
Sie hatten manches herausgefunden, anderes nicht.
Über Jean Berger wussten sie nichts. Der Bericht der Schweizer Kollegen musste heute oder morgen ein-treffen. Harald Mahler, Klaus Fröbick, Annegret Schelling waren unauffällige Existenzen und nicht vorbestraft. Mahler war selbständiger Sachverständiger für Kfz-Unfallschäden, Fröbick Realschullehrer, Schelling bis vor einigen Monaten Bankangestellte, seitdem arbeitslos. Fröbick hatte Familie, Schelling war geschieden. Alle drei fuhren seit Anfang der Neunzigerjahre regelmäßig nach Thailand, Schelling auch in andere asiatische Länder. Sie lebte in einem Ein-Zimmer-Apartment in Freiburg und war Mitglied verschiedener Asien-Fanklubs. Fröbick war Mitglied des SC Freiburg und sah sich mit seinen beiden Söhnen so gut wie jedes Heim- und Auswärtsspiel an. In der Schule war er weder beliebt noch unbeliebt. Er unterrichtete Deutsch und Englisch und unterzog sich zu Hause Weiterbildungsprogrammen übers Internet.
Sein Computer enthielt neben Übungen und Lernma-terial mehrere hundert Filmdateien mit strafrechtlich relevantem Inhalt- ausschließlich Kinderpornografie, darunter Vergewaltigungen. Bei Schelling und Mahler hatten sie kein Film- oder Bildmaterial gefunden.
Vor ein paar Tagen hatte Lederle mit Anne Wallmer in einem Reihenhäuschen in Villingen-Schwenningen auf einer geblümten Couch gesessen, Kaffee mit Dosenmilch getrunken und eine misstrau-ische Margaret Schelling über ihre Tochter befragt.
Auf dem Fenstersims hatten Fotos der kleinen Annegret gestanden. Annegret beim Balletttanzen. Beim Reiten. An der Hand des Vaters. Mit der Mutter am Grab des Vaters. Also, ich kapier nicht, was Sie von uns wollen, hatte die Mutter gesagt. Was soll die Annegret gemacht haben?
Sie hatten die Familie eingehend überprüft – immerhin waren viele Missbrauchstäter selbst Miss-brauchsopfer. Aber sie hatten nichts gefunden. Keine Anzeigen, keine Gerüchte, keine verdächtigen Arzt-besuche, keine besonderen Vorkommnisse, soweit das nachzuvollziehen war. Zumindest was die Schelling-Eltern betraf, schien alles in Ordnung zu sein. Lederle zögerte, dann sagte er: «Aber man mag ja jetzt gar nichts mehr ausschließen.»
Sie waren vor ihrem Zimmer angekommen und blieben stehen. «Als ich heute an einer Ampel gewartet habe», sagte Lederle, «ging eine Familie über die Straße, Vater, Mutter, zehn-, elfjährige Tochter. Ich habe mich automatisch gefragt, ob …‼ Er schüttelte den Kopf.
Louise musterte ihn. «Ist doch klar.»
«Nein. Ich frag mich ja auch nicht, ob der Mann, der da kommt, ein Bankräuber ist oder die Frau da drüben eine Mörderin.»
«Die Dunkelziffer bei Bankraub und Mord ist auch nicht so hoch wie bei Kindesmisshandlung.»
«Du hast Recht. Außerdem ist der Mann, der da kommt, dein Vater.»
Schweigend saß ihr Vater an dem kleinen Tisch in ihrem Zimmer und starrte abwechselnd auf das Pflaster an ihrer Schläfe und den Verband um ihre Schulter. Noch nie hatte sie ihn so verstört erlebt. Ein kleiner, schrumpliger, leerer grauer Kokon, der zu Staub zu zerfallen drohte, wenn man ihn berührte. «Papa», sagte sie, «es ist doch quasi nichts passiert.»
Ihr Vater schien sie nicht gehört zu haben. Sein Blick wanderte von ihrer Schulter zu ihrer Schläfe. Sie hatte den Eindruck, dass er nicht verstand, weshalb das Pflaster und der Verband da waren. Was sie be-deuteten: Dass sie noch lebte. Dass er nicht auch sein zweites Kind verloren hatte.
Sie seufzte. Und jetzt? Worüber konnte sie mit ihm reden, ohne zu riskieren, dass der Kokon zerfiel?
Nicht über das, was in Frankreich geschehen war, schon gar nicht über Germain oder über ihre Mutter.
Sollte sie ihm von Anatol erzählen? Von ihren Gefühlen für Richard Landen, dessen Frau bald ein Kind bekam? Von Enni, der den Mittelpunkt des Weltalls in ihrem Darm gefunden hatte?
Davon, dass sie sehnsüchtig auf den Prosecco wartete, den Anatol mitbringen würde?
Sie grunzte erschöpft. «Ich leg mich wieder hin, Papa.»
Ihr Vater stand auf und ergriff ihre Hand. Sie ließ sich von ihm zum Bett führen. Als sie sich niederge-legt hatte, deckte er sie zu. Dann setzte er sich neben sie und umklammerte ihre Hand.
Sie dachte daran, dass er sie und Germain als Kinder oft ins Bett gebracht hatte. Meine kleinen Schmet-terlinge, hatte er gesagt und ihre Hände fest gehalten.
Sie starrte auf seine grauen Hände und
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