Bottini, Oliver - Louise Boni 01
am frühen Morgen des nächsten Tages. Seine Hand lag auf ihrer unversehrten Schulter. Er schien Gefallen daran gefunden zu haben, sie zu berühren. «Zieh dich an», sagte er.
Sie hatten Steiner gefunden. Er lebte in einem abge-schiedenen Vogesental südwestlich von Straßbourg.
Seine Frau und mindestens ein Mann befanden sich bei ihm. Ein Mann, der einen roten Audi fuhr und Zeugenaussagen zufolge vor einigen Tagen angekommen war.
Der Zugriff war für acht Uhr geplant. Die Deutschen durften zuschauen. Aber sie durften ihre Waffen nicht über die Grenze mitnehmen, sie durften niemanden verhören, sie durften nichts tun. Wie immer. Lederle zuckte die Achseln.
Chervel, Justin und Bermann hielten sich seit gestern Abend in einem Ort in der Nähe des Tals auf.
Was bedeutete, dass Lederle wohl Bescheid gewusst hatte, als er gestern Nachmittag hier gewesen war. Sie unterdrückte einen Kommentar. Immerhin sorgte er dafür, dass sie dabei sein würde.
Er stand am Fenster, während sie sich anzog.
Draußen war es noch vollkommen dunkel. Sein Kopf befand sich im Zentrum eines Schneesturms. «Und die Kinder?», fragte sie und schlüpfte in Anatols Pullover.
Er zuckte die Achseln.
«Wissen die Franzosen, dass ich mitkomme?»
«Ja.»
«Wie, ähm, sieht’s an der diplomatischen Front aus?»
Lederle kicherte. «Schlecht. Almenbroich wird nach Paris kriechen müssen, um zu verhindern, dass sie dich in die Bastille werfen.»
Sie bat ihn, den Gürtel ihrer Jeans für sie zu schlie-
ßen. Er tat es. «Hilfst du mir in die Schuhe?»
Lederle hielt sich am Tisch fest, während er niederkniete. Seine Hände waren kalt und zitterten. Vorsichtig führte er ihre Füße in die halbhohen Winter-schuhe ein. Dann sagte er: «Kannst du mir hochhel-fen?»
Sie legte die rechte Hand unter seine Achsel. Mühsam stand er auf. Früher war er am Morgen besser in die Gänge gekommen. Sie hakte ihn unter. Auf dem Flur fragte sie: «Was für ein Arzt ist Steiner eigentlich?»
«Ein Augenarzt», sagte Lederle.
Draußen lag vereister Schnee. Der Februar hatte mit sibirischer Kälte begonnen. Seit einer Woche stiegen die Temperaturen tagsüber nicht über minus fünf Grad. Sie sehnte sich nach dem Krankenhausbett.
Nach Anatol. Nach der Provence.
Und nach Richard Landen. Zum tausendsten Mal fragte sie sich, warum er sie nicht besucht hatte. Sie würde ihn im Laufe des Tages anrufen und fragen.
Ihm erklären, weshalb sie nicht zum Essen hatte bleiben können.
Während sie die Matsuyamaallee entlangfuhren, dachte sie an Enni. An den Mittelpunkt des Weltalls, an den Roshi. Sobald es möglich war, wollte sie ins Kanzan-an und den Roshi fragen, wie man das fand: own-nature . Vielleicht würde es ihr im Abgrund helfen.
Später sprachen sie über Taro. Auch Lederle hatte wenig Hoffnung. Die drei Franzosen waren vor Polizistenmord nicht zurückgeschreckt. Warum hätten sie Taro verschonen sollen? Er hatte etwas gesehen, ge-hört, gewusst, was Asile d’enfants hätte gefährlich werden können. Er hatte zum Schweigen gebracht werden müssen. «Er lebt nicht mehr», sagte Lederle und klang wieder unbewegt.
Sie nickte stumm. Niksch und Taro. Zwei Menschen, die sie nicht einmal sechsunddreißig Stunden lang gekannt hatte. Trotzdem hatten sie in ihrem Leben Spuren hinterlassen. Die Welt fühlte sich ohne sie anders an. Sie nahm sich vor, dafür zu sorgen, dass das so bleiben würde. Auf irgendeine Weise hatten ihr die Begegnungen mit dem Roshi vermittelt, dass es wichtig war, dass Menschen Spuren im Leben eines anderen hinterließen. Selbst wenn man sie nur flüchtig gekannt hatte.
Bei Bad Krozingen nahmen sie die B 31. Es herrschte kaum Verkehr. Trotzdem fuhr Lederle nicht schneller als sechzig. Louise dachte an Nikschs wilde Freude beim Fahren. Seine Begeisterung, wenn er das Heck hatte ausbrechen lassen und wieder eingefangen hatte.
Während sie im Krankenhaus gelegen hatte, war Niksch beerdigt worden. Almenbroich und Bermann waren dabei gewesen, Lederle nicht. In seiner Situation konnte auch niemand verlangen, dass er auf Beer-digungen ging. Andererseits war er der Einzige, den sie hätte bitten wollen, von Nikschs letzter Reise zu erzählen.
Sie überquerten die Grenze bei Breisach, fuhren auf die Schnellstraße zwischen Colmar und Straßburg und verließen sie bei Sélestat. Fast ohne Übergang ragten vor ihnen Berge auf. Vor St. Dié bogen sie nach Norden ab. Links von ihnen herrschte Dunkelheit, rechts dämmerte es allmählich.
Die
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