Bottini, Oliver - Louise Boni 01
erklangen. Sie sagten: Sie sind tot. Wie hätte sie es verhindern können? Was hatte sie falsch gemacht? In einem Augenblick wie diesem war die Liste der Fehler unermesslich lang. Sie begann mit dem Tag, an dem sie in der Nähe von Munzingen in die falsche richtige Richtung gelaufen war.
Calamberts Fehler war es gewesen, dass er an der Heckscheibe seines Autos, in dem Annetta dem Tod entgegentrieb, einen Aufkleber angebracht hatte: It’s a man’s world. Wenn es den Aufkleber nicht gegeben hätte, wäre er nicht gestorben. So einfach war es vielleicht.
Der Aufkleber war sein Fehler gewesen. Alles andere war ihr Fehler gewesen. Jede Flasche Alkohol, die sie getrunken hatte, war ihr Fehler gewesen. Und jede Flasche Alkohol, die sie nicht getrunken hatte.
Dann hatte sie das Ende des weißen Raumes erreicht.
Die Haustür war nicht abgesperrt. Sie schob sie auf und trat in eine dunkle, quadratische Diele. Bermann war plötzlich vor ihr. Dann drängten sich Anne Wallmer und Schneider und ein paar andere an ihr vorbei. Unvermittelt flutete gelbes Deckenlicht in die Diele. Rings um sie herum wurden Türen aufgesto-
ßen. Weitere Kollegen strömten herein, verteilten sich auf die Zimmer, liefen die Treppe am Ende der Diele hoch. Gedämpfte Stirnmen ertönten – Befehle, Zurufe, Warnungen. Keine Schreie, keine Schüsse. Sie blieb in der Mitte des Quadrats stehen. Über ihr waren schnelle Schritte zu hören. Plötzlich musste sie an den Garten denken, in dem Pham und Richard Landen auf sie gewartet hatten. Sie fragte sich, in welchem Leben die beiden und sie eine Familie hätten sein können.
Das Erdgeschoss war rasch gesichert. Dann folgte das Obergeschoss, als Letztes der Keller. Nichts. Das Haus war leer.
Sie wandte sich um und verließ die Diele.
Als sie das zweite Gebäude fast erreicht hatte, kam ihr ein Polizeiobermeister entgegen. Er zögerte, dann blieb er stehen. Wortlos ging sie an ihm vorbei. Hinter ihr waren Schritte im Schnee zu hören. Jemand kam vom großen Haus hergerannt. Dann hörte sie Bermann sagen: «Wo?»
«Oben links», sagte der POM.
«Es ist das Thai-Mädchen», sagte Bermann zu ihr.
Aus seinem Funkgerät drang eine Stimme. Louise verstand nicht, was sie sagte. Bermann erwiderte:
«Bleibt, wo ihr seid, ich bin auf dem Weg.»
Er lief weiter, und sie folgte ihm schnell. Der POM
überholte sie. Dann betraten sie eine weitere quadratische, wenn auch kleinere Diele. Die Treppe befand sich an der rechten Längsseite. Bermann und der POM waren vor ihr im ersten Stock. Bermann fing sie ab. «Okay», sagte er. «Sie sitzt da drin, mit ihrer Schwester und einer Pistole und einem Toten.» Seine rechte Hand umfasste ihren Unterarm.
«Wer ist der Tote?»
«Keine Ahnung. Ein Mann.»
«Ich geh rein.»
Der Druck der Hand wurde stärker. «Du gehst nicht rein. Du sprichst mir ihr, aber du bleibst drau-
ßen.»
«Gut.» Sie wandte sich ab. Bermann ließ sie los, und sie ging an ihm vorbei. An seiner Miene erkannte sie, dass er wusste, sie würde tun, was sie für richtig hielt. Vielleicht war es ihm nicht einmal unrecht. Vielleicht dachte er, es würde verfahrene Dinge entwir-ren.
In unmittelbarer Nähe des Raums, in dem sich Natchaya, Areewan und der Tote befanden, stand niemand. Die Tür war halb offen, die Wand aus Holz.
Die Kollegen hatten an der Treppe, im Bad daneben und im Zimmer gegenüber Position bezogen.
Sie blieb zwei Meter vor der Tür stehen und sagte:
«Natchaya.»
Als keine Antwort kam, tat sie einen Schritt nach vorn. Sie sah einen kleinen rechten Fuß, ein schmales blaues Jeans-Bein. Der Fuß bewegte sich langsam hin und her. Natchaya saß an der gegenüberliegenden Wand auf dem Boden.
«Ich komm rein», sagte Louise.
«Okay», sagte Natchaya.
Eine Bewegung ließ Louise innehalten. Anne Wallmer stand rechts von ihr auf der Türschwelle des Bades. «Nicht!», bat sie flüsternd. Louise schürzte die Lippen. Was sie damit ausdrücken wollte, wusste sie nicht. Sie machte den letzten Schritt und öffnete die Tür ganz.
Natchaya und Areewan saßen nebeneinander unter dem Fenster und sahen sie an. Natchaya hielt in der einen Hand ihre Dienstwaffe im Schoß, die andere lag auf Areewans Oberschenkel.
Louise schob die Tür hinter sich zu, ließ sie aber angelehnt. Ihr Blick glitt durch den Raum. Der rote Vorhang war halb zugezogen. Links von ihr stand ein Schrank, rechts ein Bett. Ansonsten war das Zimmer leer. Abgesehen von dem Mann, der nahe der Au-
ßenwand auf dem Boden
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