Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Areewan befassen musste. Sie dachte, dass jeder andere längst begriffen hätte, was zwischen ihnen geschah. Sie nicht. Für sie wurde es immer schwieriger, etwas zu begreifen, egal was. Sie irrte sich immer öfter. Sie hatte gedacht, sie würden in einem der Häuser tote Kinder finden. Doch sie hatten die beiden Schwestern und den toten Mahler gefunden.
Was ging in diesem Zimmer vor sich?
Plötzlich kam ihr Natchayas letzter Satz in den Sinn. We can not stay, we can not leave. Wohin ging man, wenn man nicht bleiben, aber auch nicht fortgehen konnte? Was tat man?
Dann wusste sie es.
Sie wandte sich um. Ihr Blick wanderte von der Pistole in Natchayas Schoß zu Areewan, die den Kopf gedreht hatte und sie ansah. «Und deine Schwester, Natchaya? Hat sie nicht das Recht, selbst zu entscheiden, was sie will? Entscheidest du für sie? Wie dein Mann, wie all die anderen Männer? Entscheidest du, ob sie …‼
Natchaya unterbrach sie ruhig. «There were no men.
I took Areewan from Thailand to protect her. Now I can not protect her anymore. Now the men will come.»
Die Lehrerin, die Schülerin. Alles war so einfach, alles logisch. Sie fragte sich, ob diese Art Logik Teil von Natchayas Religion war. Aber welcher Religion gehörte sie an? War Thailand buddhistisch? Musli-misch wie Pakistan? Gab es in Thailand Sikhs, Hindus, Christen? Glaubte man in Thailand, dass es richtig war, Menschen zu töten, wenn man nicht bleiben, aber auch nicht fortgehen konnte? Glaubte man, dass es in bestimmten Situationen zu spät sein konnte, um weiterzuleben? War das Karma – falls Natchaya ans Karma glaubte? Oder erschien ihr alles nur ganz einfach, und war es in Wirklichkeit viel komplizierter?
Natchaya wandte sich ab und murmelte Areewan auf Thailändisch etwas zu. Ihre Stimme klang beruhigend. Areewan nickte und versuchte zu lächeln.
«Sie hat Angst, Natchaya. Sie will nicht sterben.»
Natchaya sah sie wieder an. «Can you protect her?»
«Ich würde dafür sorgen, dass sie in eine nette Familie kommt.»
Natchaya nickte. «But can you protect her?»
Louise schüttelte den Kopf. «Nein, natürlich nicht.»
Die Wut kehrte zurück. Sie schloss das Fenster.
Schneider, der immer noch allein zwischen den Ge-bäuden stand, drehte sich um und sah zu ihr herauf.
«Then the men will come», sagte Natchaya. «In this li-fe me and Areewan belong to the men. Maybe in the next life we belong to ourselves.»
Louise drehte sich um. «Dann erklär mir eins: Warum hast du ein Arschloch wie Mahler geheiratet?
Warum hast du ihm geholfen?»
Natchaya zögerte. Schließlich sagte sie. «Because I am part of the men.»
«Was zum Teufel bedeutet das?»
«I can not explain. Maybe you can?»
Louise versuchte, ruhig zu bleiben. «Weil du dich nicht gewehrt hast?»
«I don’t understand.»
«Weil du nicht gekämpft hast?»
«Yes, maybe.»
Und warum?, dachte Louise. Warum hast du nicht gekämpft?
Sie löste sich vom Fenster. Aber sie kehrte nicht zur Tür zurück, sondern setzte sich unmittelbar vor den vier kleinen Füßen auf den Boden. Areewan verstummte. Natchayas Augen schlossen sich halb. Louise sagte: «Scheiße, ich verstehe kein Wort.» Sie verwünschte sich dafür, dass sie sich auf dieses Gespräch eingelassen hatte. Warum Natchaya getan hatte, was auch immer sie getan hatte, würde in den Verhören zur Sprache kommen. Dann wäre genug Zeit für phi-losophische oder psychologische Unterhaltungen.
Jetzt dagegen war keine Zeit. Jetzt musste sie verhindern, dass Natchaya Areewan und sich umbrachte.
Und rasch herausfinden, wo Pham und die übrigen Asile-Leute waren. Aber der Gedanke blieb: Du hättest kämpfen müssen. Du hättest nicht das, was man dir als Kind angetan hat, anderen Kindern antun dürfen.
Sie senkte den Blick und musterte Natchayas Füße.
Oberhalb der kurzen Socken lagen goldfarbene Kettchen auf der braunen Haut. Die Farbe war stumpf und blätterte an manchen Stellen ab. Kettchen von einem thailändischen Strand. Vielleicht ein Geschenk ihrer Mutter oder eines Jungen. Aus einer Zeit, als sie noch nicht Teil der Männer gewesen war. Vorsichtig legte sie die Hände auf Natchayas Füße. Wie so oft in den vergangenen Tagen dachte sie an Richard Landens Satz, dass es unmöglich sei, einen anderen Menschen wirklich zu verstehen. Aber vielleicht war es auch nicht notwendig. Vielleicht gab es einen Zustand, in dem es nicht schmerzte. In dem man den anderen respektieren oder sogar lieben konnte, ohne darunter zu leiden,
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