Bottini, Oliver - Louise Boni 01
lag. Sein linkes Auge war von einer Kugel durchschossen worden. Einer Kugel vermutlich aus ihrer Walther P 5. Neben seinem Kopf hatte sich eine schmale Blutabrinnspur gebildet. Sie führte in die Mitte des Zimmers. Dort war eine kleine, noch feuchte Pfütze entstanden.
Der Mann trug Jeans, Pullover, feste Schuhe, einen Mantel. Schuhe und Hosenaufschläge waren trocken.
Er hatte vorgehabt hinauszugehen. Dann war er von Natchaya – oder Areewan – erschossen worden.
«Sie setzen bei Tür», sagte Natchaya.
Louise gehorchte. Als sie sich anlehnte, klickte die Tür ins Schloss.
Schweigend sah sie die Schwestern an. Sie glichen einander, als wären sie Zwillinge gewesen. Auch Areewan war, auf eine kindlichere Weise, bildschön.
Die Altersdifferenz von sieben, acht Jahren war kaum zu erkennen. Nur in der Mimik unterschieden sie sich deutlich. Natchaya wirkte ruhig, Areewan schien der Panik nahe zu sein. Sie zitterte und gab hohe, kaum hörbare Laute von sich. Erneut dachte Louise an Hunde. Ein Welpe, von der Mutter verlassen, von unsichtbaren Händen geschlagen. Sie überlegte, warum Vergleiche mit Tieren das Leiden von Menschen so viel eindrücklicher machten. Dann sagte sie zu Areewan: «Hallo, ich bin Louise.»
Areewan senkte den Blick. Natchaya sagte, sie spreche nur Thailändisch. Louise nickte und schwieg.
Die Schönheit der Schwestern zog sie allmählich in Bann. Sie verspürte das Bedürfnis, ihre Gesichter, ihre Körper zu berühren. Zu einem Teil ihrer Schönheit zu werden. Momentelang war sie davon überzeugt, dass sie auf diese Weise die eigene Einsamkeit besiegen konnte.
«Du hast mir das Leben gerettet», sagte sie schließ-
lich. «Warum?»
Natchaya hob die Schultern. «Töten … nicht …
gut.»
«Den da hast du getötet.» Louise wies mit dem Kopf in Richtung des Mannes.
Natchayas Blick blieb unbewegt. «Er … wollen …
He wanted to leave .»
«The country?»
«The country, me, Areewan.»
Louise nickte. Also war der Tote vermutlich Harald Mahler.
Natchayas rechter Fuß bewegte sich nicht mehr.
«He said: Go home. Go to your family. Things have changed now. I said: You are our family. It is too late for things to change. He said: Goodbye, my love.»
«Und da hast du ihn erschossen.»
«When it is too late, things can not change anymore.»
«Ist das ein Grund, seinen Ehemann zu erschie-
ßen?»
«He took us into his world. We can not live in his world without him. Without him we can not stay, we can not leave.» Natchaya sprach mit großer Geduld. Eine Lehrerin, die ihrer Schülerin schlichte Dinge erklärte.
Dinge wie den Lauf des Lebens. Das Schicksal. Die erklärte, weshalb das Leben manchmal in einem Raum wie diesem enden musste.
Louise schwieg. Natchaya war klar, was ihr und Areewan bevorstand. Sie würde ins Gefängnis gehen, von Areewan getrennt werden. Areewan würde in ein Heim, zu Pflegeeltern, vielleicht auch zu Verwandten in Thailand kommen, falls es dort noch Verwandte gab. Jahre würden vergehen, bis sie einander wiederhätten. Und auch dann würden andere über ihr Schicksal bestimmen. Die, die helfen wollten, die, die sich an ihnen vergangen hatten. Lebende wie Tote.
Things can not change anymore . Auf eine bestimmte Weise hatte sie Recht. Auf eine andere nicht. «Man kann nur das nicht ändern, was schon passiert ist.
Alles andere kann man doch ändern, wenn man will.»
Natchaya lächelte und schwieg.
Louise stand auf. Mit einem Mal war sie von einer düsteren Wut erfüllt. Wut auf sich, weil sie hilflos war und Floskeln von sich gab, Wut auf Natchaya, die so entschlossen wirkte und über das Leben Grundsätzli-cheres zu wissen schien als sie. Zumindest über einen Teil des Lebens.
Sie fragte, ob sie den Vorhang und das Fenster öffnen dürfe. Natchaya nickte. Während sie durch das Zimmer ging, wurde ihr klar, dass zwischen Natchaya, Areewan und ihr etwas vorging und dass sie nicht wusste, was.
Sie öffnete den Vorhang und stieß das Fenster auf.
Kühles weißes Licht blendete sie. Aber die plötzliche Kälte war angenehm. Draußen war nur Schneider zu sehen. Er stand zwischen den beiden Gebäuden. Sein Blick war auf den Wald gerichtet, doch dort schien alles ruhig zu sein. Er wirkte ein wenig verloren. Als hätte Bermann ihn im Schnee vergessen.
Schneiders Anblick rief ihr in Erinnerung, weshalb sie hier war. Doch etwas hielt sie davon ab, nach Pham, Taro, Annegret Schelling zu fragen. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich jetzt mit Natchaya und
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