Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Trottoir ging ein kleiner, dicker Mann. Sie stellte sich vor, er wäre hoch gewachsen und schlank und hätte eben beschlossen, morgen doch nicht nach Japan zu fliegen.
Dann fuhren sie an den Kyburg-Gebäuden am Ortsausgang von Günterstal vorbei. Wie immer, wenn sie hier war, dachte sie daran, dass sie fünf Jahre lang
«von Kyburg» geheißen und sich irgendwann auch damit abgefunden hatte. Im Gegensatz zu Mick. Ich hab einen dämlichen Namen, hatte er gesagt, bevor er sich ihr vorgestellt hatte. Und nachdem sie sich hatten scheiden lassen, sagte er: Du Glückliche, jetzt kannst du diesen dämlichen Namen ablegen.
Andererseits, Michael von Kyburg, Schweizer Ahnen im Grafenstand mit habsburgischer Verwandtschaft, das hatte die Sekretärinnen, Kassiererinnen, Putzfrauen, Verkäuferinnen und Kellnerinnen sicherlich beeindruckt. Vielleicht auch die Schriftstellerin.
Vor allem hatte es ihren Vater beeindruckt.
Auf halber Strecke nach Münzenried bogen sie nach links ab. Bermann griff wieder zum Funkgerät.
«Sind gleich da. Tut sich was?»
«Nichts. Wenn du mich fragst, die warten auf uns.»
«Quatsch», sagte Louise.
Anne Wallmer schien es nicht gehört zu haben.
Bermann beachtete sie nicht. Trotzdem, es tat gut, jetzt neben ihm zu sitzen. Es bedeutete, dass die Initiative nicht mehr bei den anderen lag, sondern bei ihnen. Dass die Dinge ins Rollen gekommen waren.
Dass sie vielleicht eine Chance hatten, Pham und die anderen Kinder zu finden.
Wenig später hielten sie hinter dem Wagen von Anne Wallmer und Schneider. Der Hof befand sich außer Sichtweite. Ein Hügel verhinderte, dass sie gesehen werden konnten.
Sie stiegen aus. Anne Wallmer und Schneider mus-terten Louise überrascht. Anne Wallmer brachte ein Lächeln zustande, Schneider sagte: «Tag, Luis.» Er war auch mit Ende vierzig noch der schönste Beamte aller vier Inspektionen der Freiburger Kripo. Unterwürfigkeit schien keine Auswirkungen auf Teint und Attraktivität zu haben. War sie vielleicht sogar eine Art Geheimformel dafür?
Sie nickte beiden zu.
«Und?», sagte Bermann.
«Nichts», sagte Anne Wallmer. «Ich wette, die haben sich da drin verschanzt und warten auf uns.»
«Quatsch», sagte Louise erneut.
Anne Wallmer warf ihr einen unruhigen Blick zu, Schneiders schöne Römerstirn umwölkte sich. Bermann wandte sich ab.
Die anderen Wagen hielten, die Kollegen stiegen aus. Einige nickten ihr zu, andere beachteten sie nicht.
Niemand sagte etwas, doch die Anspannung aller war spürbar. Sokos, die unmittelbar vor dem Zugriff standen, waren eine hochexplosive Melange aus Adrenalin, Übermüdung, Entschlossenheit, Nervosität.
Sie scharten sich um Bermann, der sie mit gedämpfter Stimme instruierte. Er wiederholte Anne Wallmers Warnung. Louise wiederholte ihren Kommentar.
Jemand kicherte gierig. Dann zerstreute sich die Gruppe fast lautlos.
Bermann hielt Louise zurück und wies sie an, sich hinter den Kollegen zu halten. «Du benutzt nur deine Augen», sagte er, «und sonst nichts, klar?»
Sie nickte.
Zehn Minuten später hatten sich die Mitglieder der Soko und die zusätzlichen Schutzpolizisten über das weiße Gelände verteilt. In Kleingruppen und einzeln warteten sie hinter Bäumen, Erhebungen, Gebüsch.
Ab einem gewissen Zeitpunkt hatte sich keiner mehr Mühe gegeben, leise zu sein. Manchmal hörte Louise Stimmen, Husten, Flüche. Die Gebäude waren um-stellt, entkommen würde niemand. Warum also schweigend im Schnee liegen?
Sie selbst hockte neben der schmalen Straße, die auf den Hof zuführte, hinter einer Schneewehe und fror. Aber die Kälte hatte einen Vorteil: Ihre Schulter schmerzte kaum.
Während sie die beiden Gebäude des Anwesens beobachtete, dachte sie, dass Anne Wallmer vielleicht Recht hatte. Falls die Asile-Leute hier waren, schienen sie abzuwarten. Doch waren sie hier? Keine Autos, kein Rauch aus den Kaminen, kein Geruch nach ver-branntem Holz. Die Vorhänge hinter den Fenstern bewegten sich nicht. Auf dem ganzen Hof von Leben keine Spur. Trotzdem wurde Louise das Gefühl nicht los, dass sich in den Häusern Menschen befanden.
Bermanns vom Megafon verstärkte Stimme zerriss die Stille. Wie am Morgen in den Vogesen geschah nichts. Nur wenige Sekunden verstrichen, dann erklang Bermanns Stimme erneut. Er stand etwa zwanzig Meter links von ihr. Anne Wallmer war bei ihm.
Er fluchte. Louise wusste, dass er höchstens noch drei Minuten warten und dann den Befehl zum Zugriff geben würde.
Sie wandte sich wieder den
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