Bottini, Oliver - Louise Bonì 02
richtete er die Pistole auf Peters Kopf.
»Zugriff!«, schrie Pauling.
Ein Schuss zerriss die Stille.
Bo ließ die Waffe fallen und setzte sich.
Peter lebte noch, als sie endlich bei ihm waren. Pauling hielt seinen blutüberströmten Kopf, der MEK-Sanitäter versuchte, die Blutung zu stoppen. Andere Kollegen des Kommandos knieten neben ihnen. »Licht!«, schrie Pauling, »wir brauchen Licht!«
Taschenlampen sprangen an. In ihrem Schein sah Louise, dass Peter die Finger bewegte, ganz langsam, als übte er ein ungeheuer langsames Klavierstück ohne Klavier. Sie wandte sich ab, schlang die Arme um Thomas Ilic, der neben ihr stand, der unverletzt war, am Leben bleiben würde. Er zitterte, und sie strich ihm über Kopf und Rücken, aber das Zittern hörte nicht auf, auch dann nicht, als die Taschenlampen erloschen und niemand mehr sprach.
Sie hatten, sagte Thomas Ilic später, von »der Heimat«
gesprochen, von Jaijce und Sarajewo, der kroatischen Insel Mljet und Zagreb, von Banja Luka und Belgrad. Sie hatten sich Geschichten aus ihrer Jugend erzählt, aber auch die Eindrücke der Gegenwart, hatten von den Zerstörungen gesprochen, die man noch immer sah, wenn man mit dem Auto an der Küste entlang durch die Krajina nach Dubrovnik fuhr oder durch Bosnien. Der Krieg war in den Geschichten präsent gewesen, aber eher so, als hätte er andere, frühere Generationen betroffen, nicht ihre. Als wären sie die Generation, die nur noch durch Erzählungen mit dem Krieg Kontakt gehabt hätte. Bo war fröhlich gewesen, und Thomas Ilic hatte den Eindruck gehabt, dass es ihm nach einer Weile nicht mehr darum gegangen war, seine Haut zu retten, sondern nur noch darum, Geschichten über die Heimat auszutauschen. Noch ein paar Minuten, und er hätte vielleicht aufgegeben, sagte Thomas Ilic. Aber dann hatte Peter erzählt, wie schwierig es im Deutschland der neunziger Jahre für ihn und seine Familie wegen ihrer Herkunft und ihres Nachnamens gewesen sei, und Bo hatte gefragt, wie er denn heiße, und Peter hatte gesagt, er heiße Mladic, du weißt schon, wie Ratko Mladic, und da hatte der Krieg sie eingeholt.
Bermann sammelte die D 11-Kollegen um sich. Er selbst wollte bleiben, auf den Erkennungsdienst warten, sich das Haus ansehen, die anderen sollten in die Direktion zurückkehren.
Thomas Ilic sagte, er wolle auch bleiben. Bermann sagte, nein, fahr in die PD, protokollier das Gespräch mit Bo, dann fährst du heim, erholst dich. Thomas Ilic schüttelte den Kopf. Er wollte nicht heimfahren, sich erholen, er wollte bleiben. Er blickte über die Lichtung. »Ich muss jetzt hier bleiben«, sagte er.
Bermann zögerte, nickte schließlich. »Louise, dann …«
Sie hob abwehrend eine Hand. »Ich fahr heim, Rolf, ich kann nicht mehr, ich fahre heim.«
Bermann zögerte wieder, nickte wieder. Sie versprach, ihm eine kurze Nachricht auf der Mailbox zu hinterlassen, wenn Marcel angerufen hatte.
Oder sonst jemand.
Bermann wandte sich an Anne Wallmer. Sie sollte Bo und Marion Söllien, die bereits in die Direktion gebracht worden waren, erkennungsdienstlich behandeln lassen, alles vorbereiten für die Vernehmungen am Morgen.
»Nimmst du mich mit?«, fragte Louise.
»Ja«, sagte Anne Wallmer. Ihr erstes Wort seit dem Zugriff.
Als sie gingen, fiel Louises Blick auf Pauling. Er stand neben dem Kommandoführer, der hektisch auf ihn einsprach, hielt den Blick zu Boden gerichtet, fuhr sich mit der blutverschmierten rechten Hand über die Haare. Sie dachte an Theres und Niksch, an Peter Mladic, und dass sie und Pauling jetzt irgendwie quitt waren.
Sie hasste sich für diesen Gedanken.
Die Dunkelheit des Waldes war von zahlreichen Lichtschneisen durchbrochen. Bereitschaftspolizisten mit Taschenlampen liefen in die eine oder in die andere Richtung, Kriminaltechniker kamen ihnen entgegen. Bei den Autos sah sie Almenbroich, doch er brach Richtung Haus auf, ohne sie zu bemerken. Sie stiegen in Anne Wallmers Dienstwagen, fuhren durch Hinterheuweiler, durch Heuweiler. Überall standen Menschen in Gruppen, sahen zu, unterhielten sich. Bereitschaftspolizisten hielten die Straße frei. Alles war wie vorher, alles war jetzt anders. Das Leben davor, das Leben danach, in der Nahtstelle zerriss ein Schuss die Stille. Im Ort mussten sie vor einer schmalen Kurve warten. Ein Rüstwagen der Feuerwehr mit Lichtmast rangierte langsam um eine Häuserecke. Sie stieg aus, sagte dem Gruppenführer, dass sie über Heuweiler nicht zur Lichtung kämen, sondern
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