Bottini, Oliver - Louise Bonì 02
Rücken. Sie zuckte zusammen, die Hand war noch kälter als zuvor. »Und warum ich und nicht Rolf? Ich hab weder Einfluss noch eine Lobby.«
Da war es, das Selbstmitleid. Sie spürte, dass sie drauf und dran war weiterzusprechen. Noch ein wenig Selbstmitleid nachzureichen. Sekunden-, minuten-, stundenlang Klagen an Almenbroich hinzureden. Die Tür zuzusperren, von den zurückliegenden Tagen, Wochen, Monaten, Jahren zu erzählen, in denen alles, alles, alles nur schief gegangen war. Wusste Almenbroich, dass ihr Exmann sie mit halb Baden-Württemberg betrogen hatte? Dass ihr Bruder Germain 1983 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war? Dass ihre Eltern zwischen Hochzeit und Scheidung wahre Kriege gegeneinander geführt hatten? Nein? Sie würde es ihm erzählen. Dies und alles andere.
Vier Monate in der Stille eines Zen-Klosters waren gut für die Selbstdisziplin, halfen aber nicht gegen das Selbstmitleid.
Sie räusperte sich und schwieg.
»Rolf hat Respekt vor Autoritäten, Sie nicht.« Almenbroich lächelte. »Manchmal ist das gut.«
Er öffnete die Tür, doch Louise bewegte sich nicht. Wenn sie schon beim Selbstmitleid war … »Eines noch«, sagte sie und stellte die Frage, die sie seit gestern Abend umtrieb: Wohin wollte Rolf Bermann mit ihr fahren?
Almenbroich schloss die Tür. Er kannte die Antwort.
Sie hatten den Mönch gefunden.
Sie blieb bis kurz vor sieben bei Almenbroich. Auf dem Fensterbrett sitzend, eine Tasse Tee in den Händen, beobachtete sie, wie unter ihr das Licht und der Verkehr in die Stadt fluteten.
Altstadt und Münster, der Schlossberg, die tausendfachen Lichtreflexe der Sonne, ein Bild des Friedens und der unbarmherzigen Gleichgültigkeit. Wahrheit und Lüge in einem.
Das Leben davor, das Leben danach, was auch immer dazwischen lag, das Leben übersprang es.
Taro war nicht ermordet worden, er war erfroren.
Spaziergänger hatten ihn Anfang März am Flaunser gefunden, weitab von Wegen und Wanderrouten. Er hatte, an einen Baum gelehnt, über Liebau, Freiburg, dem Dreisamtal gesessen, als er gestorben war.
Almenbroich und Bermann hatten entschieden, dass sie es erst erfahren sollte, wenn sie zurück war. Als sie zurück war, hatte Bermann gesagt: Wir dürfen sie nicht überfordern, es ist doch eigentlich egal, ob sie es weiß oder nicht, wir müssen sie jetzt schonen. Almenbroich hatte gesagt: Sprich mit ihr. Fahr mit ihr hin.
Die gute, alte Wahrheit.
Sie dachte, dass vielleicht auch Taro die Wahrheit gesucht hatte. Aus irgendeinem Grund war sie inzwischen davon überzeugt, dass sich die Wahrheit bei ihm auf eine einzige Frage hatte reduzieren lassen: Wer bin ich inmitten der Dinge, die geschehen?
Aber wer wusste schon, was ihm durch den Kopf gegangen war. Längst gab sie Richard Landen – »ihrem« Buddhismus-Experten – Recht: Man würde einen anderen Menschen nie vollkommen verstehen, schon gar nicht, wenn er aus einem fremden Kulturkreis stammte.
»Geht es wieder, Louise?« Almenbroich klang besorgt.
Sie wandte den Kopf. Er hatte sich samt Sessel zum Fenster gedreht. Sie nickte. So unsinnig es ihr auch vorkam: Dass Taro erfroren, nicht ermordet worden war, machte seinen Tod erträglicher.
Trotzdem wollte sie die Fotos von seiner Leiche vorerst nicht sehen.
Das Leben davor, das Leben danach, was auch immer dazwischen lag, das Leben übersprang es. Während sie ihre Tasse in dem kleinen Becken wusch, wurde ihr bewusst, wie stark sie selbst den Gesetzen des gleichgültigen Lebens gehorchte. Denn Taros Tod lieferte ihr einen Grund dafür, Richard Landen aufzusuchen.
An der zweiten Besprechung der EG »Waffen« im Soko-Raum nahmen jeweils fünf Beamte der Dezernate Kapitalverbrechen und Organisierte Kriminalität teil, außerdem Bermann und Löbinger, die Dezernatsleiter. Dazu kamen ein Erkennungsdienstler, ein Waffenexperte, zwei Sekretärinnen.
Auf der Türseite des Tisch-U saßen die D-11-Leute, auf der Fensterseite die D-23-Leute, dazwischen die anderen. Sechzehn Personen in einem Raum für achtzig, drei wortkarge Grüppchen, die sich zurückhaltend musterten. Ein Team mit Anlaufschwierigkeiten.
Die stickige, heiße Luft im Raum machte es nicht einfacher.
Louise kannte nur einen von Löbingers Leuten nicht, einen jungen, nervösen Blonden, der während ihrer Abwesenheit angefangen haben musste. Sie spürte, dass sein Blick immer wieder zu ihr zurückkehrte. Wenn sie ihn erwiderte, sah er zur Seite. Kein selbstbewusst-lässiger Anatol, eher der kleine, schüchterne
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