Bottini, Oliver - Louise Bonì 02
den Vorplatz des Wohnhauses. Die Eingangstür war geöffnet.
Dreißig Meter weiter befand sich der Stall.
Und dort, vor dem Tor, standen der Mann und der Hund und beobachteten sie.
Sie hielt, stieg aus. »Die Polizistin mit den anderen Fragen«, sagte sie. »Abend, Herr Riedinger.« Sie hatte kaum geendet, als sich der Hund in Bewegung setzte. Ohne zu bellen, ohne zu knurren, stürzte er auf sie zu.
Sie blieb, wo sie war, neben der geöffneten Wagentür.
Niemand, der halbwegs bei Verstand war, sah zu, wie sein Hund eine Polizistin angriff. Riedinger wollte sie einschüchtern. Nach allem, was am Nachmittag geschehen war, ein wenig mit der Staatsmacht spielen. Dies war, trotz allem, sein Reich. Er würde noch einen Moment warten, den Hund dann zurückrufen.
Plötzlich kam die Angst. Der Hund wurde immer schneller.
Sie sah die gebleckten Zähne, die geweiteten Augen, hörte den keuchenden Atem.
Aber keinen Befehl.
»Was wird das, Riedinger?«
Riedinger schwieg.
Sie sprang ins Auto, zog die Tür zu. Jetzt begann der Hund zu bellen. Er warf sich gegen die Tür, sprang am Fenster hoch, tobte wie von Sinnen. Fassungslos blickte sie zu Riedinger hinüber, der immer noch im Eingang des Stalles stand. Sein Gesicht war im Schatten der Stalltür nicht zu erkennen.
Kein Spiel.
Zitternd vor Angst und Empörung startete sie den Motor, legte den Rückwärtsgang ein. Der Hund folgte ihr bellend. Erst als sie den Vorplatz verlassen hatte, blieb er zurück. Zwanzig Meter weiter hielt sie an. Der Hund stand hochaufgerichtet da, die Zähne bleckend.
Kein Spiel.
Sie schaltete das Fernlicht ein, ging in den ersten Gang, gab Gas und hielt genau auf den Hund zu. Er starrte sie an, rührte sich nicht. Sie hatte keine Vorstellung davon, was er tun würde.
Was sie tun würde, falls er nicht davonlief.
Was Riedinger tun würde.
Kein Spiel, dachte sie.
Der Mann und der Hund bewegten sich nicht.
Sie beschleunigte. Der Hund duckte sich, verbarg den Kopf zwischen den Vorderläufen. Sie glaubte ihn jaulen zu hören.
Dann drehte er sich um und rannte auf den Stall zu.
Sie bremste hart, ließ den Wagen ausrollen.
Riedinger hatte sich immer noch nicht bewegt. Er stand fünf, sechs Meter vor ihr im Scheinwerferlicht. Seine Augen waren geschlossen. Es hatte beinahe den Anschein, als wartete er darauf, dass sie weiterfuhr. Dass sie allem ein Ende bereitete –
dem, was geschehen war, dem, was noch geschehen würde.
Sie überlegte, ob sie aussteigen sollte. Vielleicht konnte sie jetzt mit ihm reden. Aber wollte sie das? Noch nie hatte jemand einen Hund auf sie gehetzt.
Tränen schossen ihr in die Augen. Sie hatte gedacht, dass nach dem Entzug, nach den Monaten im Kanzan-an alles besser werden würde. Dass sie den Weg in ein normales Leben finden würde. Ein Leben mit einem einfacheren Alltag, einfacheren Beziehungen, einfacheren Gefühlen. Unspektakulär, dafür ohne Scham, Verzweiflung, Demütigung. Nun hatte Riedinger den Hund auf sie gehetzt. Gab es etwas Demütigenderes?
Die Angst auszusteigen.
Ihre Augen brannten. Sie verfluchte den WuG, der nicht hatte einsehen wollen, dass manchmal die Notwendigkeit die Regeln bestimmte, legte den Rückwärtsgang ein. Sie würde wiederkommen.
Die Angst besiegen, sich Antworten holen.
Während sie, am ganzen Leib zitternd, dem roten Sonnenauge am Horizont entgegenfuhr, wählte sie Günters Nummer. Eine Telefondienststimme, dann das Signal des Anrufbeantworters.
Sie sagte: »Geh schon dran, Günter.«
Günter nahm ab. »Schön, dass du anrufst.«
»Ich komm in zehn Minuten zu dir.«
»Luis, ich glaube nicht, dass ich das möchte.«
»Spielt keine Rolle, Hauptsache, du machst auf.«
Günter wohnte im Südwesten der Stadt, in einem der Hochhäuser von Weingarten. Vor Jahrzehnten war Weingarten billig und beinahe schick gewesen, jetzt war es billig und beinahe heruntergekommen. Eines der Problemviertel der Stadt
– hoher Migrantenanteil, viele Russlanddeutsche, Menschen in sozial und wirtschaftlich schwieriger Situation. Ethnische und soziale Parallelgesellschaften in den Hochhaussiedlungen am Rande der Stadt, im Südwesten Weingarten, im Nordwesten Landwasser, von weitem sichtbar, von nahem wohl noch nicht explosiv genug. Vor allem die Russlanddeutschen machten ihnen Sorgen. Keiner unter zweieinhalb Promille, behauptete Bermann manchmal, und keine Lust auf Integration. Sie grillten auf den Balkons der Hochhäuser, bis die Feuerwehr in Zugstärke ausrückte, um einen nicht
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