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Boy 7

Boy 7

Titel: Boy 7 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Mous
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noch schlimmer, ich würde mich gleich nicht einmal mehr daran erinnern, wie man läuft, spricht, die Tür öffnet – armer Sam Waters, für den Rest seines Lebens eine Treibhauspflanze.
    Eiskalte Angst kroch mir in die Knochen – erst in die Füße und danach über Beine und Taille zur Brust –, als würde ich in einen immer tieferen und eisigeren See laufen. Es wirkte lähmend. Jede Bewegung, die ich machen wollte, war ein Kampf mit meinem eigenen Körper. Als wäre es so von den Weißkitteln programmiert, um zu verhindern, dass ein Träger den Chip jemals selbst entfernen würde.
    Diese Dreckskerle!
    Plötzlich wurde ich so wütend, dass ich vergaß, noch länger Angst zu haben.
    Ich hatte nichts zu verlieren. Schlimmer als das konnte es nicht werden. Was für einen Sinn hatte ein Leben, das nicht wirklich das eigene Leben war? Wenn alles Tun und Lassen von einem anderen bestimmt wurde. Wenn ein anderer für einen entschied und für einen dachte. Dass man wie ein Soldat Befehle befolgte, auch wenn sie noch so stumpfsinnig oder gefährlich waren. Dann war ich noch lieber eine Treibhauspflanze als eine Marionette. Ich wollte meine eigenen Dinge entdecken und meine eigenen Fehler machen. Ich wollte herausfinden, wer ich war und wer ich werden konnte. Ich wollte wachsen und atmen und weinen und lachen und spüren, dass ich lebte. Sonst konnte man sich genauso gut auf einen Stuhl setzen und warten, bis man starb.
    Wenn es schiefginge, wäre es auf jeden Fall mein eigener Misserfolg.
    Ich nahm einen Wattebausch und tränkte ihn mit Jod. Damit rieb ich über die Schneidefläche des Teppichmessers und legte es griffbereit auf ein Papierhandtuch. Einen neuen Wattebausch und noch mehr Jod. Ich strich meine Haare zur Seite und tupfte mit der Watte über die Verdickung hinter meinem Ohr. Ein schmerzhaftes Stechen. Nicht darauf achten. Ich bedeckte meine Schulter mit Papierhandtüchern. Moment, ich sollte lieber vorher ein paar Pflaster zurechtschneiden. Da ich weder Nadel und Faden hatte noch Klammern, um die Wunde zu heften, schien mir das die beste Lösung. Ich pulte den Anfang vom Leukoplast und schnippelte mit der Schere los. An den Rändern dick, in der Mitte dünn. Ich klebte die Schwalbenschwänze mit ihrem dicken Ende an den Verbandskasten.
    Und dann war es Zeit für den Mikrochip.
    Ich nahm das Teppichmesser und schaute in die Spiegelscherbe. Das war ich. Noch immer ein wenig fremd, aber doch auch vertraut. Ein Mensch, den ich mittlerweile einige Tage kannte. Der einzige, auf den ich mich verlassen konnte. Ich musste es tun. Ganz egal, welche Konsequenzen es haben würde.
    Ich drehte den Kopf ein wenig, damit ich besser hinter mein Ohr sehen konnte. Meine Haare und Haut waren rotgelb vom Jod. Ich hielt die Spitze des Teppichmessers an die Haut. Übelkeit. Wie konnten Ärzte nur in jemanden schneiden? Weil es die einzige Möglichkeit war, einen Patienten zu retten. Ich musste es tun. Weil es die einzige Art war, Louis und die anderen Boys zu retten. Ich atmete tief ein, und noch einmal und noch einmal und dann kerbte ich mit dem Messer in meine Haut. Einen Halbkreis rund um die Stelle, an der ich den Chip vermutete. Blut schoss aus der Wunde und floss auf meine Schulter – die weißen Papiertücher färbten sich rot. Übelkeit, schon wieder. Ich tastete nach einem sauberen Stück Papier auf meinem Rucksack – ja, da hatte ich eins –, wand das Tuch um meinen Finger und drückte ihn auf den Knubbel hinter meinem Ohr. Der Schmerz schlug wie eine Welle über mir zusammen. Ich brüllte ihn heraus. Nicht ohnmächtig werden! Der Chip bewegte sich. Denk an Louis und Kathy und deine Mutter! Du hast es fast geschafft, nicht aufgeben. Wieder drückte ich auf die Verdickung. Ich spürte, dass etwas wegflutschte, und auch wenn mich der Schmerz fast umriss, war da noch etwas anderes. Etwas, das mich leichter machte. Es war, als würde in meinem Hirn ein Vorhang aufgeschoben. Als wäre ich monatelang krank gewesen und plötzlich auf wunderbare Weise genesen. Oder vielleicht monatelang tot und jetzt auf einmal springlebendig. Ich wusste alles wieder! In dem Moment, in dem der Chip aus meinem Kopf schoss, kehrten all meine Erinnerungen zurück. Mein Leben mit meiner Mutter und Kathy – ich sah beide auf einmal vor mir! Die Wochen mit Lara, unsere Verabredungen im Pizza Hut und wie sie mich hereingelegt hatte. Louis war nicht länger die Hauptperson aus einem Buch, sondern einer meiner besten Freunde. Und ich wusste endlich,

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