Bradbury, Ray - Halloween
johlend, voll koboldhaftem Übermut
rannten sie los, rannten überall, nur nicht auf dem
Bürgersteig, sprangen über Büsche und landeten um
ein Haar auf winselnden Hunden.
Doch mitten im Rennen, Lachen, Bellen blieben
sie plötzlich stehen, als hätte sie eine große Hand aus
Nacht und Wind und Hier-stimmt-was-nicht-Geruch
festgehalten.
»Sechs, sieben, acht.«
»Das kann nicht sein! Zähl noch mal.«
»Vier, fünf, sechs …«
Sie beschnupperten einander wie fluchtbereite Tiere.
»Pipkin ist nicht da!«
Wie konnten sie das wissen? Sie trugen doch alle
Masken. Und doch, und doch …
Sie konnten spüren, daß er fehlte.
»Pipkin! Der hat sich Halloween doch noch nie
entgehen lassen. Das geht nicht! Los, kommt!«
Mit einem großen Schwenk, einem hundeartigen
Traben und Drängeln, wendeten sie und rannten mitten auf dem Kopfsteinpflaster der Straße zurück,
wirbelten dahin wie Blätter vor dem Sturm.
»Hier wohnt er!«
Sie blieben stehen. Das war das Haus, wo Pipkin
wohnte, aber es waren nicht genug Kürbisse in den
Fenstern, es hingen nicht genug Maiskolben auf der
Veranda, und durch das dunkle Gras in den Fenstern
des hohen Turmzimmers im ersten Stock lugten nicht
genug Gespenster.
»Mensch«, sagte einer, »was ist, wenn Pipkin
krank ist?«
»Ohne Pipkin ist es kein richtiges Halloween.«
»Kein Halloween«, stöhnten sie.
Und einer warf einen Holzapfel gegen die Tür von
Pipkins Haus. Man hörte ein leises Klopfen, wie
wenn ein Kaninchen gegen einen Baumstumpf tritt.
Sie warteten, sie waren traurig und verwirrt, ohne zu
wissen warum. Sie dachten an Pipkin und an ein Halloween, das wie ein verfaulter Kürbis mit einer erloschenen Kerze darin sein würde, wenn …. wenn ….
wenn Pipkin nicht dabei war.
Komm doch, Pipkin. Komm und rette uns diese
Nacht!
2
W
arum warteten sie, warum hatten sie Angst
um einen kleinen Jungen?
Weil …
… Joe Pipkin der großartigste Junge war, den es
gab. Der großartigste Junge, der je von einem Baum
gefallen war und darüber gelacht hatte wie über einen Witz. Der tollste Junge, der je weit in Führung
auf der Aschenbahn gelaufen war, sich umgeschaut
und seine Freunde kilometerweit hinter sich gesehen
hatte, worauf er dann gestolpert und liegengeblieben
war, bis sie aufgeholt hatten und sie gemeinsam, Seite an Seite, das Zielband durchreißen konnten. Der
fröhlichste Junge, der je alle Spukhäuser in der Stadt
aufgespürt hatte, was ja nicht leicht ist, und den anderen davon erzählt und sie dorthin geführt hatte, um
die Keller zu durchwühlen und an den efeuüberwucherten Außenmauern hinaufzuklettern und in die
Schornsteine zu rufen und vom Dach zu pinkeln und
zu johlen und zu toben wie ein Schimpanse und zu
kreischen wie ein Brüllaffe. Am Tag, als Joe Pipkin
geboren wurde, waren alle Limonaden- und Sprudelwasserflaschen der Welt übergeschäumt, und unternehmungslustige Bienen waren ausgeschwärmt,
um alleinstehende Damen zu stechen. An seinen Geburtstagen gab der See mitten im Sommer sein Ufer
frei und kehrte mit einer Flutwelle zurück, mit einem
großen Schwung von Jungenleibern und einem donnernden Lachen.
Frühmorgens im Bett hörte man einen Vogel ans
Fenster picken. Pipkin.
Man streckte den Kopf hinaus in die SchneeRegen-klare-Sommermorgenluft.
Im betauten Gras des Vorgartens waren Kaninchenspuren zu sehen, wo gerade eben nicht ein Dutzend Kaninchen, sondern nur eines voll übersprudelnder Lebensfreude kreuz und quer und im Kreis
herumgesprungen war, über Hecken gesetzt, die
Spitzen der Farne gestreift und den Klee geknickt
hatte. Der Vorgarten sah aus wie das Stellwerk am
Rangierbahnhof. Eine Million Fußspuren im Gras,
aber kein …
Pipkin.
Und da stand er dann mit einemmal im Vorgarten
wie eine wilde Sonnenblume. Sein großes rundes
Gesicht leuchtete in der Morgensonne. Seine Augen
blinkten Morsesignale:
»Beeil dich! Es ist schon fast wieder vorbei!«
»Was?«
»Heute! Jetzt! Es ist sechs Uhr morgens! Spring
hinein! Wate darin herum!«
Oder: »Der Sommer! Ehe du dich’s versiehst –
peng! –, ist er schon wieder um! Schnell, beeil dich!«
Und er verschwand zwischen den Sonnenblumen
und tauchte zwischen den Zwiebeln wieder auf.
Ach, Pipkin, lieber Pipkin – du warst der großartigste und liebenswerteste Junge weit und breit.
Niemand wußte, wie er es schaffte, so schnell zu
rennen. Seine Turnschuhe waren uralt. Sie waren
grün von den Wäldern, durch die er getrabt war,
braun von den abgeernteten Feldern,
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