Bradbury, Ray - Halloween
einem Haufen weißer Totenköpfe aus Zucker
lag einer, auf dem PIPKIN stand.
Das war Pipkins zuckersüßer Schädel, doch in all
dem Durcheinander aus Explosionen und tanzenden
Knochen und umherfliegenden Schädeln war kein
Stäubchen, kein Ton, kein Schatten von Pipkin zu
sehen oder zu hören.
Sie hatten sich so daran gewöhnt, daß Pip unvermittelt in phantastischen, überraschenden Situationen
hervorgesprungen kam – aus der Fassade von NôtreDame oder aus schweren goldenen Sarkophagen –,
daß sie erwartet hatten, er würde wie ein Schachtelteufelchen aus einem Haufen Zuckerschädel zum
Vorschein kommen, ihnen Leichenhemden um die
Ohren schlagen und traurige Lieder singen.
Aber nichts. Plötzlich gab es keinen Pip mehr. Gar
keinen Pip mehr.
Vielleicht nie mehr.
Die Jungen erschauerten. Ein kalter Wind wehte
Nebel über den See.
19
A
us nächtlich dunkler Straße bog eine Frau um
die Ecke. Sie trug über der Schulter eine Stange
mit zwei Schalen, in denen Holzkohle glühte. Von
diesen beiden Häufchen rot leuchtender Kohle
sprangen Funken, die der Wind auseinanderblies und
verstreute. Die Frau war barfuß, und sie hinterließ
überall eine schwache Spur aus verglühenden Funken. Wortlos schlurfte sie um eine Ecke in eine Gasse und war verschwunden.
Ihr folgte ein Mann, der ganz mühelos einen kleinen Sarg auf dem Kopf trug.
Es war eine vernagelte Kiste aus rohem, weißem
Holz. An den Seiten und auf dem Deckel waren mit
Nadeln billige silberne Rosetten und handgemachte
Seiden- und Papierblumen festgesteckt.
In der Kiste war …
Die Jungen starrten dem aus zwei Menschen bestehenden Beerdigungszug nach. Zwei, dachte Tom. Der
Mann und die Kiste, ja, und das, was in der Kiste war.
Der Mann, der ein feierliches Gesicht machte, balancierte den Sarg auf dem Kopf und trat in eine nahegelegene Kirche.
»War …«, stotterte Tom, »war das wieder Pip, da
in der Kiste?«
»Was glaubst du, Junge?« fragte Downground.
»Ich weiß nicht«, rief Tom. »Ich weiß bloß, daß
ich genug habe. Die Nacht ist zu lang gewesen. Ich
hab zuviel gesehen. Ich weiß jetzt alles, Mann, alles.«
»Ja!« sagten die anderen und drängten sich zitternd zusammen.
»Und wir müssen doch nach Hause. Was ist mit
Pipkin? Wo ist er? Ist er tot oder lebt er noch? Können wir ihn retten? Ist er verloren? Kommen wir zu
spät? Was sollen wir tun?«
»Ja, was sollen wir tun?« riefen alle. Sie hatten
dieselben Fragen in den Augen und auf der Zunge.
Sie klammerten sich an Downground, als wollten sie
ihn zu einer Antwort zwingen, als wollten sie sie aus
seinem Ellbogen reißen.
»Was sollen wir tun?«
»Um Pipkin zu retten? Ein Letztes noch. Sehr ihr
diesen Baum dort?«
An dem Baum schaukelte ein Dutzend mit Teufeln, Gespenstern, Totenköpfen, Hexen gefüllte Tontöpfe im Wind.
»Zerschlagt euren Topf, Jungs!«
Er drückte ihnen Stöcke in die Hände.
»Schlagt zu!«
Sie taten es, schreiend. Die Töpfe zersplitterten.
Und aus dem Skelett-Topf fiel ein Regen aus tausend kleinen Skelett-Blättern. Sie umwimmelten
Tom. Der Wind trug Skelette, Blätter und Tom davon.
Aus dem Mumien-Topf fielen Hunderte von zerbrechlich wirkenden ägyptischen Mumien, die in den
Himmel davonwirbelten und Ralph mitnahmen.
Und so zerschlug jeder Junge seinen Topf, so daß
ihn kleine Abbilder seiner selbst umtanzten wie Essigfliegen und Teufel, Hexen, Geister kreischten und
die Jungen packten und wie Blätter mit ihnen durch
die Luft taumelten, gefolgt vom lachenden Mr.
Downground.
Sie jagten im Zickzack durch die letzten Gassen
der Stadt, hüpften und sprangen wie Steine über den
See und …
… purzelten in einem Durcheinander aus Knien
und Ellbogen auf einen noch entfernteren Hügel. Sie
setzten sich auf.
Sie waren mitten in einem verlassenen Friedhof.
Weit und breit kein Mensch, kein Licht – nur Grabsteine, die aufragten wie riesige, mit altem Mondlicht
übergossene Hochzeitskuchen.
Downground landete leichtfüßig neben ihnen und
bückte sich mit einer raschen Bewegung. Er zog an
einem eisernen Ring im Boden. Mit quietschenden
Angeln schwang eine Falltür auf.
Die Jungen standen vor dem gähnenden Loch.
»Kata …«, stotterte Tom, »Katakomben?«
»Katakomben.« Downground wies hinab.
Eine Treppe führte hinunter in trockene, staubige
Tiefen.
Die Jungen schluckten schwer.
»Ist Pip da unten?«
»Holt ihn rauf, Jungs.«
»Ist er allein da unten?«
»Nein. Etwas ist bei ihm. Etwas.«
»Wer geht zuerst?«
»Ich
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