Bradbury, Ray - Halloween
Stadt, eine Explosion. Dann noch eine und noch eine.
Es war ein Feuerwerk.
Die Jungen sahen sich ein letztes Mal nach den
Blumen, den Gräbern, den Plätzchen und Speisen,
den Schädeln auf den Gräbern, den MiniaturBeerdigungen, Särgen und Kerzen, den zusammengesunkenen Frauen und einsamen Jungen, Mädchen
und Männern um und wirbelten und sausten den Hügel hinunter in Richtung Feuerwerk.
Auf der Plaza blieben Tom und die anderen kostümierten Jungen keuchend stehen. Sie tanzten herum, als ringsum tausend kleine Knallfrösche explodierten. Die Lichter gingen an. Plötzlich waren die
Geschäfte geöffnet.
Und Tomas und Jose Juan und Enrique zündeten
Knallfrösche an und warfen sie mit Geschrei.
»Hey, Tom – der ist von mir: Tomas!«
Tom sah seine eigenen Augen im Gesicht des ausgelassenen Jungen blitzen.
»Henry, der hier ist von Enrique!« Peng!
»Und der ist für dich, J. J. – von Jose Juan!«
»Ach, das ist das beste Halloween von allen!« sagte Tom.
Und so war es.
Denn während der ganzen wilden Reise hatte es
nicht so viel zu sehen, zu riechen, zu berühren gegeben wie hier.
In jeder Gasse, in jeder Tür und jedem Fenster lagen Haufen von Zuckerschädeln mit wunderschönen
Namen.
Aus jeder Gasse kam das Tapp-Tapp der Sargtischler, das sich anhörte wie das Pochen des Totenuhrkäfers. Sie hämmerten, sie nagelten Sargdeckel
fest, und es war, als schlügen sie in der Nacht auf
hölzerne Trommeln.
An jeder Ecke lagen Zeitungsstapel mit dem Bild
des Bürgermeisters, dessen Körper ein Skelett war,
oder des Präsidenten, der nur noch aus Knochen bestand, oder einer hinreißenden Frau, die sich als Xylophon verkleidet hatte: Der Tod spielte auf ihren
Rippen eine Melodie.
»Calavera, Calavera, Calavera …« Das Lied trieb
den Hügel hinunter.
Seht die Politiker, von der Zeit überrannt.
Ruhet in Frieden – euer Ruhm war bloß Tand!
Seht die dürren Gerippe, wie hoch sie aufragen,
Stehn auf den Schultern von anderen und
jammern und klagen,
Sie predigen, ringen, spielen Fußball zuweilen,
Kleine Springer und Sprinter, die vergebens eilen.
Wer hätte gedacht, daß nach des Lebens Pein
Der Tod könnte etwas so Kleines sein?
Und das Lied hatte recht. Wohin die Jungen auch
sahen – überall waren winzige Akrobaten, Trapezkünstler, Basketball-Spieler, Priester, Jongleure,
Turner, aber sie alle waren von Kopf bis Fuß, bis in
den kleinen Finger Skelette, und alle waren klein genug, um sie in einer Hand zu halten.
Und dort drüben im Fenster stand eine MiniaturJazzkapelle mit einem Skelett als Schlagzeuger und
einem Skelett als Trompeter und einem Skelett mit
einer Tuba, die nicht größer war als ein Suppenlöffel,
und einem Skelett als Dirigent, der eine bunte Mütze
trug und einen Taktstock in der Hand hielt. Aus den
winzigen Blasinstrumenten kam leise Musik.
Noch nie hatten die Jungen so viele Knochen gesehen.
»Knochen!« lachten alle. »Herrliche Knochen!«
Das Lied verklang:
Nehmt den dunklen Tag mit euch und seid heiter,
Beißt ab und schluckt und lebt fröhlich weiter! El Dia de Muerte bleibt zurück in der Zeit –
Seid froh, so froh, daß am Leben ihr seid! Calavera … Calavera …
Die schwarz umrandeten Zeitungen wurden in weißen Beerdigungszügen vom Wind davongetragen.
Die mexikanischen Jungen rannten den Hügel hinauf zu ihren Familien.
»Wie seltsam, wie komisch seltsam«, flüsterte Tom.
»Was?« sagte Ralph neben ihm.
»Oben in Illinois haben wir vergessen, um was es
bei Halloween geht. Ich meine, in unserer Stadt sind
die Toten heute nacht einfach vergessen. Keiner erinnert sich an sie. Keiner kümmert sich um sie. Keiner geht auf den Friedhof und redet mit ihnen. Sie
sind ganz schön einsam. Das ist wirklich traurig.
Aber hier – Mann, hier ist alles anders. Hier ist es
fröhlich und traurig zugleich. Auf der Plaza gibt es
ein Feuerwerk und all die Spielzeugskelette, und
oben auf dem Friedhof kriegen jetzt alle toten Mexikaner Besuch von ihren Familien, mit Blumen und
Kerzen und Liedern und Zuckerzeug. Das ist doch
fast wie an Weihnachten, oder? Alle setzen sich zum
Festessen, auch wenn die Hälfte der Gäste gar nichts
essen kann, denn das macht nichts – Hauptsache, sie
sind da. Als ob man bei einer spiritistischen Sitzung
ist und sich mit Freunden an den Händen faßt, nur
daß manche Freunde nicht da sind. Irre.«
»Ja«, sagte Ralph und nickte. »Irre.«
»Hey, seht mal, seht mal da drüben«, sagte J. J.
Die Jungen drehten sich um.
Auf
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