Bradbury, Ray - Halloween
stehst du in einer Reihe mit den anderen, und
Touristen kommen und gaffen dich an und zahlen
Eintritt, damit sie dich angaffen dürfen. Du …
»Pip!« rief Ralph hinter seiner Maske. »Du mußt
mit uns kommen!«
»Ich kann nicht«, schluchzte Pip. »Sie lassen mich
nicht.«
»Sie?«
Aber sie wußten, daß er die lange Reihe von Mumien meinte. Um hinauszugelangen, hätte er einen
Spießrutenlauf zwischen den Nachtmahren, den geheimnisvollen Wesen, den Schrecken, den Klagen
und Gespenstern machen müssen.
»Sie können dich nicht aufhalten.«
»Doch, sie können«, sagte Pip.
»… können …«, kam das Echo tief aus der Katakombe.
»Ich habe Angst herauszukommen.«
»Und wir …«, sagte Ralph.
… haben Angst hineinzugehen, dachten alle.
»Vielleicht wenn einer von uns mutig genug ist
…«, begann Tom und hielt inne.
Denn Pipkin weinte wieder, und die Mumien warteten, und die Nacht in der langen Grabkammer war
so finster, daß man, wenn man einen Schritt gemacht
hätte, glatt in den Boden eingesunken wäre und sich
nicht mehr hätte rühren können. Der Boden hätte einen mit marmornen Händen an den Knöcheln gepackt und festgehalten, bis die bittere Kälte einen für
alle Zeit zu einer trockenen, verstaubten Statue gefroren hätte.
»Vielleicht wenn wir alle zusammen rennen …«,
schlug Ralph vor.
Sie versuchten es.
Wie eine große Spinne mit vielen Beinen versuchten die Jungen, sich durch die Tür zu zwängen. Zwei
Schritte vorwärts, einen Schritt zurück. Einen Schritt
vorwärts, zwei Schritte zurück.
»Aaahhh!« schrie Pipkin.
Bei diesem Geräusch fielen sie kreischend übereinander, schrien ihre Ängste und Nöte heraus und krochen wieder zur Tür. Sie hörten eine Lawine von Herzschlägen, die schmerzhaft in ihrer Brust rumpelte.
»Ach, zum Donner, was sollen wir denn nur tun?
Er hat Angst zu kommen, und wir haben Angst, ihn
zu holen. Was sollen wir bloß tun?« rief Tom.
Hinter ihnen lehnte Downground an der Wand. Sie
hatten ihn ganz vergessen. Auf seinem Gesicht flackerte ein kleines Lächeln wie ein Kerzenflämmchen
und erlosch.
»Hier, Jungs. Damit könnt ihr ihn retten.«
Er griff in seinen weiten Umhang und holte einen
vertrauten Totenkopf aus weißem Zucker hervor, auf
dessen Stirn PIPKIN stand.
»Rettet ihn, Jungs. Macht ein Geschäft!«
»Mit wem?«
»Mit mir und anderen, die ungenannt bleiben.
Hier. Brecht den Schädel in acht köstliche Bissen
und verteilt sie. Das P ist für dich, Tom, das I für
dich, Ralph, die eine Hälfte von dem anderen P für
dich, Hank, die andere Hälfte für dich, J. J. ein bißchen vom K ist für dich, hier ist ein bißchen für dich,
und da ist das I und da das N. Nehmt die süßen Bissen, Jungs. Hört zu – jetzt kommt das dunkle Geschäft. Wollt ihr Pipkin wirklich retten?«
Auf diese Frage brach ein so wütender Proteststurm los, daß Downground regelrecht ein Stück
davongeweht wurde. Daß jemand ihren Willen, Pip
am Leben zu erhalten, auch nur bezweifelte, ließ die
Jungen bellen und knurren wie Hunde.
»Schon gut, schon gut«, beruhigte er sie. »Ich sehe, ihr seid entschlossen. Also dann: Ist jeder von
euch bereit, ein Jahr seines Lebens zu geben?«
»Was?« sagte Tom.
»Es ist mir ernst, Jungs: ein Jahr, ein kostbares
Jahr von dem dann schon weit herabgebrannten Kerzenstumpf eures Lebens. Wenn jeder von euch ein
Jahr opfert, könnt ihr Pipkin vom Tod loskaufen.«
»Ein Jahr!« Ein Flüstern, ein Murmeln ging durch
die Gruppe – die schreckliche Summe dessen, was
von ihnen verlangt wurde, war schwer zu begreifen.
Ein so weit entferntes Jahr war eigentlich gar kein
Jahr. Elf- oder zwölfjährige Jungen haben keine Vorstellung, was in einem siebzigjährigen Mann vorgeht.
»Ein Jahr? Ein Jahr? Na klar, warum nicht? Ja …«
»Denkt nach, Jungs, denkt gut nach! Das ist kein
kleiner Kuhhandel um nichts. Ich meine es ernst.
Wirklich und wahrhaftig. Ihr laßt euch auf eine
ernstgemeinte Bedingung ein, auf ein ernstgemeintes
Geschäft.
Jeder von euch muß versprechen, ein Jahr seines
Lebens zu geben. Jetzt wird es euch natürlich nicht
fehlen, denn ihr seid jung, und wenn ich eure Gedanken befühle, merke ich, daß ihr euch die Situation, in
der ihr einst sein werdet, nicht einmal vorstellen
könnt. Erst später, fünfzig Jahre nach dieser Nacht
oder sechzig Jahre nach diesem Abend, wenn euch
die Zeit ausgeht und ihr euch sehnsüchtig einen Tag
mehr wünscht, mit schönem Wetter und guter Laune,
wird das Schicksal, wird der
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