Braeutigame
angebettelt.
Die Fliegende Kommission hatte es dagegen gar nicht abwarten können. Nach zwei Tagen hatte sie alle Neuankömmlinge aus Bessarabien an großen Tischen in der Eingangshalle eingebürgert und Ausweise verteilt. Ihre rumänischen Papiere hatten sie abgegeben.
Am Vortag war Freier mit Georg, Heinrich und Alma in die Stadt gegangen, in den dicksten Sachen. Sie hatten eigenes Geld, Lei und Rubel, aber sie hatten noch immer keine Reichsmark ausgehändigt bekommen, und die Wechsler nahmen keine Währungen aus dem Osten. Also waren sie zu Fuß gegangen. Leipzig war eine hell erleuchtete Stadt mit Autos, Straßenbahnen, Menschen, noch größer als Odessa, dachte Freier, und die Leute in den Straße n waren elegant gekleidet wie auf den Fotografien in den Zeitungen. Freier hätte seine Kinder gerne in ein Lokal ausgeführt, jetzt, wo sie in Deutschland waren. Aber er hätte nicht einmal eine Tasse Tee bezahlen können, also sahen sie nur in die Geschäfte und Schaufenster. Am Hauptbahnhof studierten sie die Fahrpläne der Züge: Dresden, Görlitz, Breslau, Berlin, Hamburg, Rostock, Frankfurt Oder. Alle paar Minuten schien eine Eisenbahn in eine andere Stadt abzu fahren. Georg wäre am liebsten in einen der teuren Waggons gestiegen, in dem Passagiere auf weichen, grünen Polsterbänken saßen und Zeitung lasen, um selbst das neue Land zu sehen. Auch dafür hatten sie k ein Geld, der Junge wusste es natürlich . Sie machten keine Lustreise wie die Gieses, die nach Burnas gefahren und aus Spaß an der Freude halbnackt ins Meer getaucht waren ; sie siedelten um. Am Nachmittag gingen sie eine Stunde lang zurück nach Gutewerk, durch Schneematsch auf den Bürgersteigen.
Der Ausflug machte ihnen Mut. Alles schien neu und modern zu sein, obwohl Krieg herrschte. Selbst Alma, der Oma Mathilde s Tod nahe gegangen war, hatte geredet und gesponnen: Was sie in Deutschland alles tun und sehen müssten. Übermütig gelacht hatte sie in der Bahnhofshalle von Leipzig, als sie gelesen hatte, wie nah sie Berlin gekommen waren, keine zwei Stunden entfernt. Sie war wirklich ein schönes Mädchen, dachte Freier, trotz allem, eine schöne Frau, und ihr Heinrich… – es war gut, wie es war. Heinrich war ruhig und überlegt. Er hatte geholfen, wo er konnte, auf der langen Fahrt die Donau hinauf, mit Georg im Fieber. Sie hätte es schlechter treffen können.
Vielleicht war es ein Segen, dass Oma Mathilde ihnen nicht mehr zur Last fiel. Bis ins Lager nach Leipzig hatte sie es geschafft, in ein neues Bett, aus dem sie nicht mehr aufgestanden war. An einem Morgen, als die Frauen die Säl e Auensee und Biberach gründlich mit kochendem Wasser und Essig putzt en, lag sie mit offenen Augen im Be tt, in ihrem schwarzen Kleid. Ihr Gesicht und ihre knotigen Finger schienen geschrumpft zu sein, eingetrocknet. Es war das Alter, hatte der deutsche Arzt gesagt, ein Dr. Schröder, der einmal täglich im Lager vorbeischaute und den Hustenden auf die Brust klopfte. „Das Alter, Fräulein“, hatte er zu Alma gesagt. „Es war nichts mit ihrer Großmutter. Nur das Alter.“
Prudöhl gab dem Zucker die Schuld, als Schröder weitergegangen war. „Es geht nicht lange gut mit den Menschen, wenn der Zucker kommt. Es waren immerhin schon Jahre, in denen sie immer schwächer geworden war. In der Heimat schon.“
Sieben Tage lang hatten sie Oma Mathilde in einer Kammer im Rückgebäude liegen lassen, neben einem Mann mit vollem Bart aus Kulm, noch keine fünfzig konnte der gewesen sein, einfach umgefallen beim Essenholen mit dem vollen Teller Erbsensuppe . Eine Schande für ein Reich wie das deutsche, eine Weltmacht, dachte Freier, wenn die Toten nicht zu ihrer Zeit unter die Erde kamen . Es hieß, dass es in ganz Leipzig keine Särge gäbe , oder jedenfalls nicht genug für alle, es war eine große Stadt, in der an jedem Tag Menschen geboren wurden und starben, ein ewiges K ommen und Gehen . Schröder hatte ihn beiseite genommen und ihm geraten, Oma Mathilde der Einfachheit halber einäschern zu lassen. Aber das wollte er nicht unterschreiben, konnte er nicht. Sie wurde schließlich auf einem Friedhof im Süden der Stadt beigesetzt, Connewitz hieß das Viertel. Vierzehn Leute waren sie an der Grube gewesen. Freier rechnete es Heinrichs Eltern, den alten Krafts, hoch an, dass sie in der Winterkälte – auch sie zu Fuß – den langen Weg hin und zurück auf sich genommen hatten. Er war sich nicht sicher, ob er noch einmal die Grabstelle finden würde.
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