Braeutigame
waren, und das waren die, auf denen die meisten nach dem Westen zogen. Alma wollte auf kleinere Wege ausweichen, um schneller voranzukommen, doch Jakob und Irma Schilling hielten das für eine schlechte Idee. Sie befürchteten, sich zu verlaufen. Also hielten sie sich, wie alle anderen, an die überfüllten L andstraßen.
„Tante Hildchen“, rief Arthur. „Schau einmal da drüben. Die Leute, die da liegen.“
„O nein“, seufzte Frau Glück, als sie die Krähen auf den Leichen am Feldrand sah. Die Gesichter schienen nur noch aus Augen zu bestehen: schwarzen, klaffenden Höhlen. Die Vögel hatten alles Weiche herausgepickt, die Augäpfel, Lippen, Wangen , Lider. Ein Leib hatte zwischen Hemd und Hose einen offenen Bauch. Ein Wolf, dachte sie, oder ein Fuchs, hoffentlich nur ein Fuchs. Eine fast gerade Linie zeigte weg von der Straße, rosa und schwarz, länger als der Körper, der blutige Darm.
Ein Schuss fiel weit vor ihnen. Hunderte Vögel erhoben sich gleichzeitig, krähten und bildeten eine Wolke.
„Schau nicht hin“, sagte Frau Glück und legte Arthur von hinten die Hand auf die Augen. „Geh weiter. Einfach weiter. Das wollen wir uns nicht ansehen .. . – die plündernden Schnäbel. “
„Was ist das denn? Was ist mit den Leuten?“
„Sie sind tot“, sagte sie.
„Ich will sie auch sehen.“
„Nein. Darfst du aber nicht. Wenn du dich umdrehst, gibt es Senge. E rzähl du mir lieber, was du machen willst, wenn wir alle angekommen sind i m herrlichen, grünen Westen … Ist das nun nicht viel besser als die Schule in Liebfelde ?“
Um sich von der Kälte und Müdigkeit abzulenken, erzählten sie sich Geschichten. Hildchen Glück redete ununterbrochen, als kämpfte sie mit Worten gegen etwas an – gegen Angst, die Stille, die Erinnerung. Manchmal, fanden die Freier-Kinder, war es wirres Zeugs. Dass sie ein Päckchen mit Rasierklingen in der Manteltasche trug, eingewickelt in Reispapier aus Japan, für alle Fälle, sagte sie, man wüsste nie. Dass sie – an dieser Stelle flüsterte sie – ihren Schmuck noch hätte , und wo sie ihn versteckte – ki ! – am Leib natürlich, ihr hingen alle Goldketten um den Hals, unter ihrem alten Schal aus Ziegenhaaren, und die Ringe und Armbänder und zwei paar schwere Ohrhänger mit Klunkern hatte sie in ihren Mantel eingenäht, hinten am Saum, wo es nicht auffiel, wenn der Stoff etwas dicker und schwerer war, und es nicht klöterte... Dann sang sie unvermittelt mit tiefer Stimme , froh zu sein bedarf es wenig und bloe Barje grüne Täla , wie he r rlich das Stec kla Erde da wäre und brachte ihnen das Riesengebirgslied bei.
Irma Schilling erzählte von Kindern und Männern und Katzen – wer wo sein sollte und wer noch lebte und wer nicht. Manchmal, wenn der Wind und der Hunger ihr zusetzten, fluchte sie , ein neuer Zug, den sie seit dem Wartheland hatte. Es gab den Freier-Kindern ein gutes Gefühl, dass diese gestandene Frau den Anstand fahren ließ und gegen die Kälte anfluchte. Unkraut verkam nicht, sagte sie, e s machte ihnen Mut, auch wenn es keinen Sinn ergab, weil so viele nicht mehr weitergehen konnten, sondern am Straßenrand saßen und stumm warteten und am nächsten Morgen, wenn nicht ein Wunder geschah, erfroren sein würden . Wenn Frau Schilling nichts Neues einfiel, fing sie wieder von vorne an mit ihren Geschichten .
„Arthur, komm, gib mir deine warme Hand“, sagte sie. „So lange wir noch reden können, ist alles gut. Da kommt uns kein Wolf holen und auch kein Teufel nicht.“
Ende Februar richteten sie sich in Triebel in einem leeren Schweinestall ein, um für einige Tage abzuwarten. Niemand im Ort wusste, wo die Front verlief, aber die Russen wäre n zurückgeschlagen, sagten di e, die aus Oberschlesien in die Lausitz gekommen waren. Es würde nicht mehr lange dauern, bis alle in ihre Häuser zurückkehren kö nnten. Ihr Führer hätte sie noch einmal gerettet.
Es wurde wieder kalt und fror. Der Wind ließ in der Nacht die Holztüren des Stalls klappern. Zusammen mit einer anderen Familie schliefen sie eng nebeneinander in altem, feuchtem Stroh, ohne Ofen. Arthur lag nachts mit angewinkelten Beinen auf der Seite in einem Trog.
Ilse starb in der drit ten Nacht im Mantel ihrer Mutter. Als Alma vor Sonnenaufgang kurz aufwachte, waren die Lippen blau. Die Augen sahen nach oben, zur Stirn, ins Nichts, und ließen sich nicht schließen.
Alma trug ihre Tochter noch einen Tag lang mit sich herum , in einem Tuch auf der Brust. Am
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