Braeutigame
Vorhut der Roten Armee, die als erste fielen, und bevor sie fielen, wollten sie noch etwas haben vom Leben. Auch dies geht vorüber, dachte sie, es wird vorübergehen, wie alles, ihr Vater, ihr Vater, wo war ihr Vater…? Sie hörte Kinder schreien, die standen und schrien, was sollten sie auch anderes tun, es waren doch nur Kinder, unfertige Wesen, Alma hörte sie, und sie hörte sie nicht, und sie hörte das Grunzen vor ihrem Gesicht, ihrem eigenen Gesicht, in ihrem Kopf, sie sah nichts mehr, es stank nur in ihren Gedanken, und es brannte in ihr, unten brannte es, und sie bekam kaum Luft, es war etwas in ihrem Mund, ein Stoff… und die Finger brannten auch, ihre Hände, was war mit ihren Händen…? Sie fühlten sich weit weg an, taub, aber sie brannten, als hätte sie heißes Wasser oder flüssiges Kerzenwachs verschüttet, sie mussten noch da sein, und die Kinder weinten, weg von hier, sie wollte weg, nur weg, versinken, wo war ihre Ilse…? Wo war Arthur? Hatte er sie genommen…? Gott mach, dass er sie genommen hat und sich versteckt, irgendwo, irgendwo. Alma dachte an Heinrich, an die alte Sommerküche in Leipzig und das Schardach, wo die Schwalben im Mai ihr Nest bauten, an ihre sterbende Mutter… – wie merkwürdig, dass ich nun daran denken muss, dachte sie im nächsten Moment, aber sie hatte keine Kontrolle über die Bilder, die ihr einfielen . Alma hielt die Augen geschlossen, sie wollte sie nicht sehen, aber ab und zu sah sie sie doch, ihre Augen – schmal und dunkel und gebogen wie eine Welle die einen, grau und kalt andere, alle hatten tiefe Schatten, dunkle Ringe, die sich auf der Haut über den Wangenknochen absetzten. Ein paar grinsten frech, als sie sie nahmen, einer spuckte sie an, als er fertig war, zischte sie an – sie verstand es nicht –, einer – ein pickeliger – drehte, als er seine Seligkeit spürte, die Augen in den Himmel . Einer zog mit den Daumen ihre Lider hoch, damit sie ihn dabei sah, fast zärtlich tat er es und grinste und stieß sie tief, und Speichel tropfte ihm von der Unterlippe. Es waren Alte und Junge, da war die ganze Welt, vor ihr, auf ihr, in ihr. Sie konnte ihre Arme nicht bewegen, ihre Hände steckten fest, was war mit ihr… hatte man sie gebunden…? Hinter ihr spürte sie etwas Weiches, Nasses, Kaltes , ein Kopf lag auf ihrer linken Sch ulter, aber sie lag nicht, s ie stand – warum stand sie…? Sie hatte keine Angst mehr, vor nichts, sie hatte nur noch einen Gedanken, der Tod, schnell schnell, nur weg hier, lass es schnell gehen, lieber Gott, und lass dieses entsetzliche Brennen aufhören, und kurz darauf merkte sie, wie erst in ihrem Kop f ein gelber Blitz und dann Übelkeit und Schwarz über sie kamen – endlich, dachte sie, und sie entspannte für den Bruchteil einer Sekunde , bevor sie versank.
Nicht der Tod fand sie, sondern Arthur. Seine älteste Schwester stand mit dem Rücken an einer Kellertür aus Holz, die Hände über den Kopf nach oben gestreckt, die Augen geschlossen. Das Kinn lag auf dem Brustbein, über ihrem nackten , weißen Busen. Die Russen hatten sie angenagelt, vor einen Mann – einen, den sie nicht mehr wollten, der überflüssig war oder Deserteur , er trug die Uniform der Roten Armee. Der Mann war kalt, und seine dunkelgrüne Armeehose hing ihm auf den Knöcheln. Die Spitze der Zunge steckte zwischen seinen Zähnen, und auf der Unterlippe klebte angetrocknetes, braunes Blut. Almas Kleider waren zerrissen, oben und unten, der Stoff hing in Fetzen herunter. Ein Fuß war nackt. Der andere steckte, ohne Strumpf, in einem Männerschuh. Schmutz klebte ihr an den Beinen, bis über die Knie.
Arthur zitterte, als er näher kam. Selbst an den Schultern und in seinen Hinterbacken spürte er es zucken, er verstand nicht, was mit ihm geschah. Es kam ihm vor, als hätte er die Kontrolle über seinen Körper verloren. Seine nassen Kleider klebten an ihm, und seine Zähne klapperten. Eine Scheune brannte. Ein blutendes Muli lag vor einem Tor auf der Seite und wieherte. Es versuchte aufzustehen, aber es gelang ihm nicht. Arthur hustete. Im Vorbeigehen sah er, dass das Tier eine Schusswunde am Rücken hatte . Die anderen Pferde und Mulis in ihrem Lager, die die Wagen des Trecks gezogen hatten, waren verschwunden . Die Russen mussten sie mitgenommen haben. Sie würden sie braten, dachte er und war für einen Moment hungrig.
Er hatte sich, als sie kamen, in die Hose gemacht, es war einfach aus ihm herausgelaufen, warm und unhaltbar, vorn ins
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