Braeutigame
auf die Straße.
„Ich weiß es nicht“, sagt er schließlich. „Niemand weiß es. Nehmen Sie einfach jeden Tag und leben Sie aus dem Vollen, so gut es geht.“
3. November 199 5
Geliebter Heinrich,
die Ärzte sagen, ich muss sterben. Nun bin also ich an der Reihe.
Ich bin nicht glücklich, natürlich nicht. Es ist eine schreckliche Sache, wenn die dunklen Gedanken kommen, die man nicht abschütteln kann, die immer im Kopf sind & unvergesslich. Ich bin eine alte Frau, die ihr Leben mit Gottes Hilfe gelebt hat – und doch kommt diese Angst, diese große, schreckliche Angst von tief innen und ergreift Besitz von einem und vertreibt alle anderen Gedanken, und man besteht innendrin nur noch aus Angst. Es ist nicht alles gut eingerichtet mit unseren Herzen und unseren Gefühlen, das muss ich sagen. Der liebe Gott hätte es an manchen Stellen anders machen sollen. Man sollte fröhlich gehen, mit einem zufriedenen Lächeln, nicht mit dieser Tollheit im Kopf, diesem einzigen Gedanken an Tod und Endlichkeit.
Warum sie es einem überhaupt vorher sagen müssen, es ankündigen, das verstehe ich nicht. Können Ärzte nicht ihren Mund halten? Wem ist damit geholfen, dass ich es weiß und keine Ruhe mehr finde und mein Leben mir aus den Händen genommen wird? Warum suchen sie überhaupt nach einem Krebs, wenn sie ohnehin nichts gegen ihn unternehmen können? Es ist so sinnlos , scheint mir .
Ich habe überlegt, ob ich es den Kindern sagen soll und meinen Geschwistern. Aber ich sehe nicht, dass es nötig ist, jedenfalls noch nicht. Sie werden es früh genug merken, wenn ich nicht mehr bin, oder mir die Haare in Büscheln vom Kopf fallen, und es ist ohnehin alles geregelt, das Geld und die Firma, seit Jahren schon. Aber noch nicht – ich will es noch nicht aussprechen. Rede ich mit einem darüber, m uss ich mit allen darüber red en, immer und immer wieder , bis der Tag kommt . Es scheint besser, einfach zu schweigen und noch eine Weile in Ruhe zu leben. Ich habe über so vieles geschwiegen in meinem Leben, es wird mir leicht fallen. Die Zeit, die mir bleibt, möchte ich nicht mit Schwatzen und Sentimentalität verbringen.
Vielleicht hast Du es richtig gemacht, selbst wenn ich nicht weiß, was mit Dir damals im Krieg geschehen ist . Wenige sterben zu früh, viele sterben zu spät, viel zu spät, wenn ihr Leben längst den Hö hepunkt überschritten hat und alles nur noch Verfall ist, Jahre und Jahrzehnte des Niedergangs , der Einsamkeit . Es ist ja auch bei mir so. Mir kommt es vor, als liegt der Gipfel meines Lebens, die Zeit mit Dir, eine Ewigkeit zurück. War es 1939, vor mehr als fünfzig Jahren, damals auf der Leipziger Kanonenkugel, wo Du mich geküsst hast im Sommer? Auch ich hätte vielleicht im Krieg enden sollen, denke ich manchmal. Danach ist nicht mehr viel gekommen, ein bisschen Gesang , die Enkel, viel Traur igkeit. Es wäre mir einiges erspart geblieben, wenn auch ich früh gegangen wäre. Was für ein Verlust wäre es gewesen für diese Welt? Es hätte nicht den geringsten Unterschied gemacht. Ich will nicht undankbar sein. Aber vielleicht bin ich mit meinem Termin zu spät dran, wie ich fürchte? Wenn es auch eigentlich kein Termin ist: Dr. Thews sagt, wir wissen nicht, wie lange es geht, wie der Körper sich schlägt, wenn er kämpft. Ich hoffe, es dauert nicht mehr allzu lange. Es ist doch besser so, als noch jahrelang in einem Heim zu liegen und anzufangen, wirr zu reden, oder Rosina Arbeit zu machen, die auch nicht mehr die Jüngste ist, sondern eigentlich selbst Hilfe braucht und nur noch wenig im Haus macht. Aber ich bin froh, dass sie da ist & lasse sie nicht ziehen . (Wir haben jetzt eine j unge Frau neu bekommen, Mitte dreißig , aus Timmendorfer S trand. Eine Heidi, und sie ist – das sagt Rosina, und das will etwas heißen – tüchtig bisher, sie putzt und macht das Grobe. Aber sie war erst drei- oder viermal bei uns. Man muss sehen.) Wir sind alte Trutschen, Rosina und ich, Freundinnen, und mit Minna sind wir drei, aber Minna spricht nicht mehr viel. Sie sitzt auf der Veranda hinten, starrt aufs Meer und raucht. Es ist widerlich und verpestet die Luft, da sind Rosina und ich einer Meinung.
Heute morgen bin ich fast nicht aus dem Bett gekommen. Es ist ungewöhnlich für mich. Ich bin matt, alles tut weh, in den Beinen sticht es und im Becken. Aber vor allem im Kopf bin ich matt & benommen. Wenn Rosina mir nicht den Tee und mein Mohnbrötchen ans Bett gebracht hätte (ich
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