Bragg 04 - Dunkles Verlangen
vor ihrer Garderobe herumlungerten, auch verständlich.
Die Spur verlief im Sande, wenigstens fürs Erste. Natürlich konnte er einen Detektiv engagieren. Dann würde er in wenigen Tagen alles über sie wissen. Dazu fehlte ihm allerdings die nötige Geduld. Also verwarf er die, Idee gleich wieder. Er konnte ja nachmittags um fünf Uhr noch mal bei Lindley vorbeischauen. Vielleicht wusste der ja Näheres. Und wenn auch das nichts brachte, wollte er Jane abends vor der Vorstellung einfach abfangen.
Ein zweites Mal würde sie ihm jedenfalls nicht entkommen.
Die beiden Männer sahen sich durchdringend an.
In dem Raum herrschte eine immens angespannte Atmosphäre.
Schließlich ergriff Lindley das Wort. Er sah Nick in die Augen. »Keine Ahnung, wo sie ist.«
Der Earl hielt dem Blick stand. »Und – seht ihr euch?«
Lindley zögerte. »Wir sind nur befreundet.«
Der Earl war wütend. »Dann musst du doch wissen, wo sie wohnt.«
»Nein, weiß ich nicht«, sagte Lindley bestimmt – zu bestimmt.
»Du lügst.« Nick sah ihn ungläubig an. »Du belügst mich.«
Lindley schwieg, sein Gesicht war jetzt noch abweisender.
»Verdammt«, brüllte Nick. »Möchtest du vielleicht, dass sie wieder zwischen uns steht, die einzige Freundschaft zerstört, die mir etwas bedeutet?«
»Tut mir leid«, sagte Lindley. »Herrgott. Sie hat mir das Versprechen abgenommen, es nicht zu sagen. Ich kann doch so ein Versprechen nicht einfach brechen.« Er sah Nick Verständnis heischend an.
Der Earl ging in dem Raum auf und ab. Dann drehte er sich um. »Ich finde die Adresse sowieso heraus. Von mir aus kannst du dein Versprechen halten. Schlaft ihr miteinander?«
»Nein.«
Der Earl kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, wann der die Wahrheit sagte. Er war grenzenlos erleichtert.
»Warum ist dir das alles eigentlich so wichtig?«, fragte Lindley leise. »Doch nicht, weil du offiziell ihr Vormund bist.«
»›Wichtig‹ ist das falsche Wort«, erwiderte der Earl. »Mich interessieren nur die Fakten.«
»Na gut. Aber mir ist Jane persönlich wichtig«, sagte Lindley. »Sehr wichtig sogar. Sie ist eine sehr sympathische junge Frau, etwas Besonderes, und sie hat es verdient, glücklich zu sein. Lass sie also in Ruhe, Shelton. Aus irgendeinem verdammten Grund möchte sie dich nicht sehen. Lass sie doch einfach in Ruhe.«
Der Earl kehrte Lindley den Rücken zu, ging mit großen Schritten aus dem Zimmer und verließ das Haus.
»Ich würde euch so gerne zum Bahnhof begleiten, Liebling, aber das geht leider nicht«, gurrte Jane und drückte Nicole an sich. Sie sah Molly besorgt an. »Hast du auch wirklich alles dabei? Geld, eine zusätzliche Decke, Pullover?«
»Ich habe alles, Mylady, keine Sorge«, sagte Molly und streckte Nicole die Arme entgegen. Die beiden Frauen standen mit dem Kind auf den Stufen vor Janes Haus. Unten auf der Straße wartete bereits der Einspänner, der Molly und Nicole zum Bahnhof bringen sollte. Damit die Leute in der Nachbarschaft ihr Gesicht nicht erkennen konnten, hatte Jane einen kunstvollen Hut aufgesetzt, dessen Schleier ihr Gesicht verbarg.
Jane drückte Nicole noch einmal an sich. »Wiedersehen, mein kleiner Liebling, ist ja nur für eine Woche.« Sie legte das kleine Mädchen in Mollys ausgestreckte Arme und gab der Frau einen Kuss auf die rundliche Wange. »Schicke mir ein Telegramm, sobald ihr angekommen seid, und dann jeden Tag eines. Lass Nicoles Namen unerwähnt, schreibe bloß, ob alles in Ordnung ist.«
»Ja, Mylady. Keine Sorge. Heute fährt doch jeder nach Brighton.«
»Ja, ja«, sagte Jane nervös. Sie küsste die beiden noch einmal und sah dann zu, wie Molly, die Nicole auf dem einen Arm hielt und in der anderen Hand einen kleinen Koffer trug, durch das Tor zu dem Wagen hinunterging. Sie war schrecklich beunruhigt, war sich aber gleichzeitig bewusst, dass sie nur eine dumme Mutter war, die zum ersten Mal für ein paar Tage von ihrem Baby getrennt war.
Und sie weigerte sich, an morgen zu denken.
Am folgenden Tag wollte sie nämlich ein paar Dinge mit dem Earl von Dragmore besprechen.
Kapitel 30
Er wartete draußen vor dem Theater auf der anderen Straßenseite vor einer Apotheke. Er konnte von dort aus zwar alles gut überblicken, war aber im Gewühl der Passanten und dank einer Markise selbst nicht leicht zu sehen. Er vermutete, dass sie durch die Seitenstraße und nicht von Piccadilly Circus her kommen würde, und er behielt Recht. Nicht vermutet hatte er
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