Bragg 04 - Dunkles Verlangen
wieder aufzunehmen, wo er abgerissen war. Sie versuchte ihre Verbitterung zu verdrängen. Nur eines wurde ihr immer klarer: Von Nicole konnte er einfach nichts wissen. Gegen Morgen wurde sie deshalb etwas ruhiger. Nein, er konnte von dem Kind nichts wissen. Aber warum hatte er dann so getobt? Dass er außer sich gewesen war, hatte seine Stimme nur zu deutlich verraten. Außerdem wusste sie noch sehr gut, wie unglaublich reizbar der Earl war. Schon beim geringsten Anlass brannte er lichterloh wie ein Feuer. Ein dunkles Feuer.
Aber ihr Mitleid hielt sich in Grenzen.
Am nächsten Morgen konnte sie sich nicht dazu durchringen, mit ihrer Tochter im Hof zu spielen. Die beiden blieben im Haus, hielten sich versteckt – sollte er wider Erwarten doch noch kommen. Auch wenn alles dagegen sprach.
Nach dem Frühstück hielt Jane ihre kleine Tochter auf dem Arm und überlegte, was in der neuen Situation zu tun sei. Nicole machte sich währenddessen an den Bändern in Janes Haar zu schaffen. Wenn ich eine gute Mutter wäre, dachte sie, würde ich mein Engagement im Criterion kündigen und mit Nicole spurlos verschwinden. Aber das brachte sie nicht fertig. Das war nur der letzte Ausweg, falls ihr wirklich keine andere Wahl mehr blieb. Vielleicht sollte sie Nicole und Molly für ein paar Tage nach Brighton schicken, bis sich die Situation wieder beruhigt hatte. Sie konnte den Earl sogar ganz direkt mit der Frage konfrontieren, was ihn zu seinem Auftritt veranlasst hatte. Dann würde sie schon herausfinden, ob er von Nicole etwas wusste. ja, das war eine Möglichkeit.
Sie ließ Nicole kurz allein im Salon zurück, gab ihr etwas zum Spielen und eilte dann nach nebenan in die Küche. »Molly, packe ein paar Sachen zusammen. Ich möchte, dass du mit Nicole eine Woche nach Brighton fährst.«
Molly machte große Augen und klatschte vor Vergnügen in die Hände. Jane erklärte ihr den Grund. Dann traten die beiden aus der Küche in den Gang hinaus und besprachen alles.
In der Tür zum Salon stand ein Mann, der den beiden jungen Frauen den Rücken zukehrte.
Jane blieb stehen und legte die Hände vor der Brust zusammen. »Jon! Wie bist du denn hereingekommen?«
Er drehte sich um und sah sie mit großen ungläubigen Augen an. »Die Tür stand sperrangelweit offen.«
Jane ließ ihn einfach stehen und ging rasch zu ihrer Tochter, die sich am Boden mit einer silbernen Dose beschäftigte. Sah ganz danach aus, als ob Nicole die Dose mit ihren kleinen Händen vom Tisch heruntergezogen hatte. Jane kniete neben ihr nieder und nahm das kleine Mädchen in die Arme.
»Mein Gott«, sagte Lindley.
Jane stand mit ihrer Tochter im Arm wieder auf und sagte äußerlich völlig gefasst: »Molly, bitte schließe die Eingangstür und sperre ab.«
Molly hatte ein schlechtes Gewissen und war errötet. »Tut mir leid, Mylady. Der Milchmann war gerade da, als Ihr mich gerufen habt, und da … ~‹
»Schon gut«, sagte Jane und sah Lindley an.
Lindley blickte die kleine Nicole ungläubig an. Jane drückte den Kopf des kleinen Mädchens gegen ihre Wange. »Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen, Jon«, sagte sie mit schwacher Stimme. Dabei bebte sie am ganzen Körper.
»Ich musste dich heute unbedingt sehen«, sagte Lindley befangen. »Ich musste dich einfach sehen. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan – nach dem Vorfall gestern Abend im Criterion. Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht, warum du solche Angst vor ihm hast. Weißt du schon, dass er die Tür aufgetreten hat?«
Jane schwieg. Ihre Wangen waren tränenüberströmt, sie hatte die Augen geschlossen.
»Jetzt verstehe ich. Das ist seine Tochter, nicht wahr?«
Jane zog das kleine Mädchen noch enger an sich. »Nein.«
»Ihr Haar hat fast dieselbe schwarze Farbe wie seines. Ihre Haut ist zwar nicht so dunkel wie seine, aber auch nicht so hell wie deine. Ihre Augen sind weder blau noch grau, sondern etwas dazwischen. Am verräterischsten allerdings sind die Wangenknochen. Genauso hoch und markant wie seine. Wie alt ist sie? Lass mich raten – dreizehn Monate?« Dann verfinsterte sich sein Gesicht. »So ein Mistkerl!«
Jane geriet in Panik. »Bitte, bitte, Jon, wenn dir etwas an mir liegt, sag ihm bitte nichts davon.«
Lindley sah sie an. »Dann weiß er es also gar nicht?«
»Wenn er es herausbekommt, nimmt er sie mir weg, das weiß ich ganz genau.«
Lindley stand schweigend da und verzog keine Miene.
Jane setzte Nicole wieder auf den Boden und wischte sich die Augen
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