Bragg 04 - Dunkles Verlangen
sich ein Glas Milch geholt. Eigentlich hatte sie vor jeder Vorstellung Lampenfieber. Trotzdem waren ihre Nerven noch nie so angespannt gewesen wie an diesem Abend. Sie führte ihre Nervosität darauf zurück, dass in der vergangenen Woche die Zuschauerzahlen im Criterion Theatre Abend für Abend zurückgegangen waren. Da die Inszenierung erst seit sechs Wochen auf dem Programm stand, war dieser Zuschauerschwund ein bedenkliches Zeichen. Nur an einem Abend in der ganzen zurückliegenden Woche war das Haus beinahe ausverkauft gewesen. Robert hatte sogar die Befürchtung geäußert, dass das Zuschauerinteresse seinen Höhepunkt bereits überschritten hatte und allmählich abebbte.
Jane wollte sich mit dieser Entwicklung noch nicht abfinden. Sie war in ihrer Rolle noch nie so gut gewesen, auch wenn die Presse davon vielleicht nichts mitbekommen hatte. Tatsächlich hatten die Kritiker Jane in den vergangenen Tagen kaum einmal erwähnt – oder bestenfalls, weil sie sich durch ihre Schönheit an ihre Mutter erinnert fühlten. Viel schlimmer war aber noch die Vereinbarung, die sie mit ihrem Mann getroffen hatte: Sobald die laufende Produktion aus dem Programm genommen wurde, musste sie nämlich drei Monate in Dragmore verbringen. Davor hatte sie eine Höllenangst.
Die beiden kamen sich auf der Treppe entgegen: sie mit einem Glas Milch in der Hand auf dem Weg nach oben, er auf dem Weg nach unten. Als sie sich sahen, bekamen beide einen gehörigen Schrecken. Dann nickte er, und sie nickte ebenfalls. Sie gingen aneinander vorbei, ohne sich zu berühren, ja, sie gaben sich sogar sichtlich Mühe, dies zu vermeiden. Keiner von beiden sprach ein Wort. Der Earl war elegant gekleidet, wollte offenbar den Abend auswärts verbringen. Eine peinliche Situation. Jane fühlte sich weder wie seine Frau noch wie die Dame des Hauses. Im Gegenteil: Sie kam sich vor wie ein unerwünschter Gast, wie ein Eindringling.
Trotzdem überlegte sie, wohin er gehen mochte – schlimmer noch: mit wem?
An jenem Abend spielte sie besser denn je – allerdings vor halb leerem Haus.
Hinterher versuchte Robert sie in der Garderobe zu trösten. »Jane, du hast dich in letzter Zeit als Schauspielerin um Klassen verbessert. Deine Fortschritte sind von Vorstellung zu Vorstellung zu erkennen.«
»Und wieso kommen dann so wenig Leute?« Sie war müde und hing lustlos vor ihrem Spiegel auf dem Stuhl. Sie wollte nicht nach Hause gehen – nicht in das Haus des Earls –, sondern sehnte sich nach ihrem behaglichen Heim in der Gloucester Street.
»Eine Theaterproduktion hat eine Art Eigenleben«, sagte Gordon. »Keine Sorge. Wir finden schon eine neue Rolle für dich, wenn das Stück abgesetzt wird.«
Jane sah ihn bloß an. Sie war zu erschöpft, um ihm zu erklären, warum sie sich für drei Monate in den »Urlaub« verabschieden musste.
Später wies Jane den Kutscher an, mit dem Wagen des Hauses Dragmore einen kleinen Umweg zu machen und Gordon zu Hause abzusetzen. Bevor er aus der Kutsche stieg, auf der das schwarzgoldene Familienwappen prangte, fragte er: »Alles in Ordnung, Jane?«
Sie wusste genau, auf wen und auf was seine Frage abzielte. Deshalb rang sie sich tapfer zu einem Lächeln durch. »Ich glaube schon.«
»Wenn ich etwas für dich tun kann«, sagte er ernst, »zögere nicht.«
Sie schenkte ihm einen dankbaren Blick. Welch ein Glück, einen echten Freund zu haben, auf den sie sich verlassen konnte. »Danke.«
Kurz darauf öffnete ihr Thomas die Tür. Er war trotz der späten Stunde – es ging bereits auf Mitternacht – makellos gekleidet. Während er ihr ein leichtes Mahl servierte, erkundigte sich Jane beiläufig, ob der Earl schon zu Bett gegangen war. Thomas’ Gesicht blieb ausdruckslos. »Nein, Mylady.«
Jane inspizierte aufmerksam die Karotten vor sich auf dem Teller. »Ist er vielleicht in der Bibliothek?« Mein Gott, wie egal es ihr war, wo er sich gerade aufhielt.
»Er ist noch unterwegs«, sagte Thomas.
Jane war zwar sehr müde. Trotzdem beschloss sie, zuerst nach Nicole zu sehen und dann noch ein wenig zu lesen. Nachdem sie festgestellt hatte, dass Nicole friedlich schlief, machte sie es sich mit einem Buch auf dem mit Chintz bezogenen Sofa in ihrem Wohnzimmer bequem. Die Tür zum Gang ließ sie einen Spaltbreit offen. Seine Räume gingen auf denselben Korridor hinaus wie ihr Wohnzimmer, nur ein paar Türen weiter. Sie konnte also unmöglich überhören, wenn er nach Hause kam, denn er musste direkt an ihren Räumen
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