Bragg 04 - Dunkles Verlangen
Jane spürte: Zwischen ihr und ihrem Publikum bestand eine große Distanz, die sie nicht recht zu deuten wusste. Als sie sich nun abermals verneigte, blickte sie lächelnd ins Publikum. Warum waren die Leute, die in so großer Zahl erschienen waren, nur so zurückhaltend? Vor ihren Füßen landete eine Rose. Sie hob sie mechanisch auf, winkte und warf den vorderen Reihen eine Kusshand zu. Ein Mann unten im Parkett rief begeistert: »Engel, Engel!«
Dann ebbte der Beifall allmählich ab. Jane wollte schon von der Bühne abgehen, als unten im Saal eine Frauenstimme rief: »Engel, wo ist der Herr der Finsternis?«
Schon halb vom Publikum abgewandt, hielt sie kurz inne, ging dann von der Bühne und verschwand hinter dem Vorhang. Und dort blieb sie fassungslos stehen, während die Leute draußen »Engel, Engel!« riefen. Aber riefen nicht etliche Zuschauer auch seinen Namen: »Dragmore, Dragmore …«
Oh Gott.
Sie umfasste ihre Schultern mit den Händen und hatte plötzlich ganz schreckliche Angst.
»Jane, du warst fantastisch«, rief Gordon und ergriff ihre Hände.
Jane war wie betäubt, obwohl sie klar denken konnte. Eine oder auch mehrere Zuschauerinnen hatten seinen Namen gerufen – den Namen ihres Mannes. Oder hatte sie sich das alles etwa nur eingebildet? Nein. Ausgeschlossen. Sie war Berufsschauspielerin, und kein Theaterliebhaber würde sich eine solche Geschmacklosigkeit erlauben. Nein, sie hatte sich das alles bloß eingebildet.
Als sie vor ihrer Garderobe draußen im Gang die Presse sah, bekam sie einen gehörigen Schrecken. Sie kannte die Journalisten inzwischen alle und brachte – noch immer völlig schockiert – nur mit Mühe ein strahlendes Lächeln zustande.
Dann blickte sie fragend von einem zum andern, sah in sensationslüsterne Gesichter, wenigstens meinte sie das.
»Jane!«, rief der Reporter des Star. »Ihr wart fantastisch heute Abend. Die Ehe scheint Euch zu bekommen.«
Eine Frau drängte sich vor. »Wie habt Ihr den Earl kennen gelernt? War es Liebe auf den ersten Blick? Habt Ihr keine Angst vor ihm?« Dann erschauderte sie theatralisch.
Jane wich zurück.
Doch der Star-Reporter bedrängt sie weiter: »Warum die heimliche Heirat? Wann hat er um Eure Hand angehalten? Wann habt Ihr Euch entschieden zu heiraten? Hat er seine Frau wirklich umgebracht?«
»Genug!«, rief Jane ebenso betroffen wie befremdet. Sie benutzte Gordon als Puffer und schob sich durch die Pressemeute Richtung Garderobe.
Doch die Frau blieb hartnäckig. »Hat er seine Frau umgebracht? Habt Ihr keine Angst, dass er Euch tötet?«
Gordon knallte der Frau die Tür vor der Nase zu.
Jane stand fassungslos in ihrer Garderobe und zitterte am ganzen Körper. Sie war totenbleich. »Oh Gott!«
»Schwamm drüber«, sagte Gordon bestimmt. »Keine große Sache. Kommt nun mal nicht alle Tage vor, dass eine berühmte Schauspielerin einen bekannten Lord heiratet.«
Jane legte die geöffnete Hand um ihren Hals. »Was für blutrünstige Barbaren«, flüsterte sie. »Und das Publikum hast du das gehört? Die Leute haben heute Abend seinen Namen gerufen.«
»Reine Neugier«, sagte Gordon.
»Neugier!«, kreischte Jane hysterisch. »Dann sind die Leute heute Abend also nur aus Neugier gekommen – um mich wie im Zoo anzugaffen?« In ihren Augen standen Tränen. »Ich habe so hart gearbeitet, so verdammt hart. Ich habe wirklich alles gegeben – mehr als das. Und dann kreuzen die Leute hier auf, weil sie wissen wollen, wie die neue Frau des Earls von Dragmore aussieht, und nicht etwa, um mich zu sehen: Jane Barclay!«
»Du übertreibst«, sagte Gordon. »Beruhige dich, Jane.«
An letzter Zeit sind jeden Tag weniger Zuschauer gekommen. Gestern haben wir geheiratet, und heute waren die Zeitungen voll davon. ›Kleiner Engel heiratet Herrn der Finsternis‹.« Sie fing bitterlich an zu weinen. »Die Leute sind heute Abend nur aus Sensationsgier gekommen. Als ich den Applaus gehört habe, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmt.«
Gordon streichelte ihre Schulter. »Du übertreibst, Jane. Kann sein, dass auch ein paar Gaffer da waren, aber die meisten Leute sind natürlich wegen der Vorstellung gekommen.« Doch völlig überzeugt schien auch er nicht.
Jane wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und sagte leise: »Ich hasse ihn. Der Mann zerstört mein Leben.«
Gordon schwieg.
Wütend und erschöpft setzte sich Jane an ihren Schminktisch und fing an, sich abzuschminken. Den Sherry, den Robert ihr gereicht
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