Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
Brahms dann mit Joseph Hellmesberger im kleinen Saal des Konzertvereins. Erstaunlicherweise war die Opus 100-Muse Hermine Spies weder in Bern noch in Wien geladen.«
Jüres Ausführungen bestärken meine Annahme. »Mir scheint, das sind Fakten, die an die Existenz mindestens eines weiteren Exemplars denken lassen.«
»Bis jetzt reine Vermutung«, relativiert mein Assistent. »Widmann hat sich zu den Noten nie erklärt. Bis zu seinem 70. Geburtstag. Darauf war’s zu spät. Die Vorbereitungen zum Jubeltag waren in vollem Gange. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf darum die Nachricht von seinem Tod ein. Trauer und Bestürzung waren riesig. Die kulturelle Schweiz suchte Trost in einem Widmann-Vers.«
»Und den kennst du«, vermute ich.
»Richtig. Ich habe ihn mir notiert. Augenblick.« Der vorbildliche Mitarbeiter blättert in seinen Unterlagen. ›O Insel dieser Erde, auf der mein Fünklein glimmt, auch wenn es längst erloschen, mein Tag kein Ende nimmt.‹«
»Nicht unbescheiden, der Gute«, sage ich.
»Um seiner Prophezeiung Aussicht auf baldige Erfüllung zu verleihen, fasste die erschütterte Widmanngemeinde die Errichtung des besagten Gedenkbrunnens in tränennasse Augen.«
»Schöne Idee«, stelle ich fest.
»Ja, die Idee fand allgemeine Zustimmung«, meint Jüre. »Ein Komitee namhafter Persönlichkeiten wie den Schriftstellern C. A. Loosli und Rudolf von Tavel, sowie dreier Bundesräte verhalf dem Projekt zu angemessener Publizität.«
Ich staune. »Der war ja richtig prominent, der Widmann. Das war mir bisher nicht bewusst.«
»Nun ja. In der Schweiz wurde seine Bedeutung möglicherweise überschätzt. Das lässt auch den Erfolg einer Falschmeldung nachvollziehen. Danach sollte dem Dichter die Stadt Venedig mit der Benennung einer ›Calle larga Widmann‹ und der ›Ponte Widmann‹ die Ehre erwiesen haben.«
Ich dränge. »Und wie ging es mit dem Brunnen weiter?«
»Der skurrile Vorschlag, an seiner Stelle ein Asyl für altersschwache Hunde und Gäule zu gründen, drohte den Säulenheiligen zum Maikäferkomödianten verkümmern zu lassen. Darum sollte der Brunnen zügig realisiert werden.«
»Bevor das letzte Quäntchen Menschenwürde in Tierfutter zermanscht wurde?«
»So ungefähr. Die Mittel suchte das Komitee durch eine gesamtschweizerische Sammlung zu beschaffen. Aber Widmanns Stern begann rascher zu sinken, als das irgendwer für möglich gehalten hätte.«
»Den traurigen Rest behalte für dich«, rate ich.
Jüre überhört es. Unerbittlich fährt er fort. »Ein klägliches Sammelergebnis bewog die Initianten, durch eine Volksausgabe seiner Werke zu Geld zu kommen. Stattdessen hinterließ sie einen beträchtlichen Fehlbetrag.«
»Was für eine Tragödie«, kommentiere ich.
»Dessen ungeachtet konferierte das Komitee regelmäßig. Es schrieb voll des ungebrochenen Optimismus einen Wettbewerb für die Gestaltung des Denkmals aus.«
Ich lehne mich zurück und schüttle den Kopf.
»Aus 16 Entwürfen ging das Projekt ›Blaudrossel‹ des Architekten Alfred Lanzrein als Sieger hervor.«
Ich freue mich. »Lanzrein? Bestimmt auch ein Thuner. Wie sah sein Entwurf aus?«
»Wasser sollte in zwei runde Becken plätschern. Acht massive Säulen waren vorgesehen, eine mit Ornamenten geschmückte Kuppel zu tragen. Darunter sollte die Bronzeplastik eines Jungen mit Blaudrossel platziert werden. Die Realisation stand unmittelbar bevor. Stattdessen dominierte schlagartig der Erste Weltkrieg. Die Bundesräte hatten nun andere Sorgen. Die Arbeiten am Denkmal gerieten ins Stocken.«
»Also musste auf die Blaudrossel verzichtet werden?«
»Vorerst. Man stellte nur die Brunnenhalle fertig«, sagt Jüre. »Zehn Jahre nach Widmanns Tod ergänzte man sie mit dem nackten Jüngling von Hermann Haller.«
»Warum müssen solche Figuren eigentlich immer nackt sein?«, frag ich mich. »Die Brahmsrösi in Thun, der Jüngling in Bern. Außer Mutter Helvetia, Generälen und Reformatoren werden offensichtlich alle entblättert.«
»Hoffentlich wirst du nie berühmt, Hanspudi.«
» Käumlich . Antikisierende Heldenposen und ephebenhafte Nacktwanderer finden zurzeit keine Mehrheit.«
»Rösi trägt ihre paradiesische Unschuld und der Widmannjunge nichts, außer seinem Vögelchen, der Blaudrossel. In der linken Hand«, präzisiert Jüre. »Die Rechte hat er schützend über den Vogel gelegt. Die aufgeplusterte Drossel hält er sanft und lose auf Höhe seiner rechten Brust. Der schmächtige Bursche hat
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