Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
das?
Im allerletzen Augenblick hechte ich zur Seite. Das entfesselte Gefährt verfehlt mich um Haaresbreite.
»Geht’s noch? Du Idiot!«, schreie ich ihm nach und hebe den Stinkefinger.
Passanten bleiben erschrocken stehen. Der Wagen stoppt ebenfalls. Kommt der Lenker sich bei mir entschuldigen? Oder hat er Mühe mit meiner Zeichensprache? Wird er jetzt noch handgreiflich?
Statt unverzüglich das Weite zu suchen, bleibe ich wie gebannt stehen. Blöd. Aber ich muss wissen, wie es weitergeht. Da rollt die verdammte Karre erneut los, im Rückwärtsgang. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass ich gleich plattgewalzt werden soll.
Jetzt erst renne ich weg. Gerade noch rechtzeitig. Leider kann ich den wahnsinnigen Lenker nicht erkennen. Dafür bekomme ich mit, wie er mit Karacho in eine Ansammlung abgestellter Fahrräder prescht. Wie bei einem Massensturz bei der Tour de Suisse fliegen die Drahtesel in alle Himmelsrichtungen durch die Luft. Ein einzelnes Rad rollt wankend vor den Hoteleingang. Ein schmaler Fahrradsattel landet wie ein kleiner Meteorit im Kinderwagen eines perplexen Säuglings.
Atemlos flüchte ich zur Parkanlage, um in den Kiesweg zwischen halbhohem Kirschlorbeer und vertrockneten Thujahecken einzubiegen. Den Ententeich erreiche ich just in dem Moment, als Stefan wie der verlorene Sohn aus dem angrenzenden Gebüsch auftaucht.
»Hallo, Hanspeter«, sagt er verwundert. »Wo warst du denn die ganze Zeit?«
Meine Erleichterung ist unbeschreiblich. Mit Freudentränen in den Augen umarme ich den Jungen. Dieser lässt die Szene relativ cool über sich ergehen. Vermutlich hat er eine ganz andere Reaktion erwartet. Wäre nicht ein gigantischer Zusammenschiss angesagt gewesen?
»Geht’s dir gut, Stefan?«, frage ich besorgt.
»Easy. Und dir?«
Ich übergehe seine Rückfrage. »Wo warst du die ganze Zeit? Weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen gemacht habe?«
Schuldbewusst schaut er zu Boden. »Sorry. Es war wegen dem Cap.«
Das reicht mir als Erklärung nicht aus. »Wie? Was war los?«
Stefan berichtet, wie er am Vormittag durch den Park geschlendert sei und eine Gruppe von Austauschstudenten kennen gelernt habe. Gemeinsam hätten sie Ball gespielt. Einer der Studenten habe ihm darauf die blaue Mütze vom Kopf gerissen und sie einem andern Kollegen zugeworfen. An Stelle des Balls habe nun die Kappe als Wurfgeschoss gedient. Die Saubande habe sich damit amüsiert, ihn hinter seiner Kopfbedeckung herspringen zu lassen.
»Plötzlich ist einer mit dem Cap weggespeedet. Ich voll hinterher. Tatsächlich habe ich das Ding zurückerobert. Gerade als ich es wieder aufgesetzt hatte, rammte mich einer der Typen so kräftig von hinten, dass ich vornüber auf den Kiesweg geknallt bin. Ich habe mich dabei an der Stirn verletzt. Als sie das Blut sahen, sind sie abgehauen, die Schisser. Das war dort hinten, beim runden Blumenbeet. Da sieht man von hier aus leider nicht hin. Gemeinerweise hat einer das Cap noch mitlaufen lassen. Wenn das nicht passiert wäre, hätte ich pünktlich beim Teich auf dich gewartet. Ehrenwort!«
Ich winke ab. Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? »Zeig her. Ist’s schlimm mit deiner Verletzung?«, frage ich und prüfe seine Stirnwunde. Zum Glück nur eine oberflächliche Schürfung. Wir werden sie im Hotel mit Desinfektionsmittel und Heftpflaster versorgen.
»Und du? Warst du erfolgreich?«, will Stefan wissen.
»In der Bibliothek schon. Auf der Suche nach dir weniger.«
»Sorry«, murmelt er.
Vom Zwischenfall mit dem Lada erzähle ich nichts. Ich will meinen Begleiter nicht verängstigen. Auch die Frau lasse ich unerwähnt, die sich nach uns erkundigt hat.
»Was ist mit den Noten?«, will er wissen.
»Ja, genau. Da habe ich mir meine Meinung gebildet«, antworte ich. »Sie stammen höchstwahrscheinlich aus Brahms’ Feder.«
»Krass!«, kommentiert Stefan.
»Natürlich bin ich nicht restlos überzeugt«, relativiere ich die gute Botschaft.
»Du kannst morgen hingehen und das Ding nochmals checken«, meint er.
»Nein. Ich werde versuchen, unseren Rückflug umzubuchen. Wir reisen noch heute Abend in die Schweiz zurück.«
Der Junge guckt verständnislos. »Ich denke, wir wollten drei Tage bleiben?«
»Die Umstände erfordern ein Umdisponieren«, erwidere ich kurz angebunden.
»Ist es wegen mir?«, befürchtet Stefan. »Nimmst du mir die Sache mit dem versifften Date übel? Soll das die Strafe dafür sein?«
Ich winke ab. »Quatsch. Es ist sonst was vorgefallen,
Weitere Kostenlose Bücher