Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
Tonfall. »In die Freude mischt sich aber auch Trauer. Trauer und Bestürzung.«
Jeder ahnt, was Auf der Maur gleich mitteilen wird.
»Ursprünglich war für den heutigen Abend Bernhard Bachmann als Violinist vorgesehen gewesen. Aber, Sie wissen es bereits, er weilt nicht mehr unter uns. Ein kaltblütiger Mörder hat ihn uns entrissen. Als langjähriger Freund des Verstorbenen erlaube ich mir die Annahme, dass es in seinem Sinn wäre, unser Konzert dennoch stattfinden zu lassen. Ich danke Frau Josi an dieser Stelle ganz besonders dafür, dass sie kurzfristig für Herrn Bachmann einspringt und das Quartett auch in Zukunft zu ergänzen beabsichtigt. Ich bin überzeugt, dass sie sich als Brahmsinterpretin durchsetzen wird.«
Ellen neigt sich zu mir und flüstert: »Die Josi ist sogar noch besser als der Bachmann, du wirst sehen.«
Ich nicke wortlos. Was hat es mit dieser Behauptung auf sich?
Auf der Maur hebt zu einer Laudatio an: »Als einzigartiger, herausragender, unnachahmlicher Brahmsinterpret wird Bernhard Bachmann unvergessen bleiben. Als geistiger Übervater und Gründer von Vive pro Musica wird er das Spiel zukünftiger Interpretinnen und Interpreten weiterhin beeinflussen. Darf ich Sie daher bitten, sehr verehrte Gäste, liebe Freunde, sich jetzt zu einer Schweigeminute zu erheben?«
Der Präsident faltet die Hände wie zum Gebet. Die Konzertbesucher stehen auf. Hiernach setzen sich alle wieder hin und der Gastgeber fährt in etwas heitererem Ton fort: »Ich danke dem Kammerensemble schon im Voraus für ihren Vortrag. Er wird uns die unverwechselbare Meisterschaft jenes Komponisten in lebendige Erinnerung rufen, dessen Werk zu pflegen seit je im Zentrum unserer Gesellschaft steht. Vertiefen wir uns in die Klangwelt von Johannes Brahms, liebe Freundinnen und Freunde, tun wir es ihm gleich: Vergessen wir alles Schreckliche. Denken wir nur Musik!«
Arthritische Hände klatschen freundlichen Applaus. Der Gastgeber verneigt sich. Darauf nimmt er den Platz ein, der in der ersten Reihe für ihn freigehalten worden ist.
Ich sitze in der dritten Reihe. Direkt vor mir hat eine kleingewachsene, mir unbekannte Dame Platz genommen. Sie trägt ein dunkelgrünes Deuxpièces mit beigem Kragen und den Duft von Lavendel. Zu ihrer Rechten hat sich mit Geächze ein Greis niedergelassen.
In der ersten Reihe sitzt Frau Bornhaus. Auf den Knien liegt ein Notenheft bereit, das sie ihrer auffälligen Handtasche entnommen hat. Die Gute will sich offenbar vom fehlerlosen Spiel überzeugen.
Überraschenderweise hat ihr Ehemann einen Platz hinter mir und nicht neben seiner Gattin eingenommen. Warum sitzen die beiden getrennt? Distanz als Ausdruck von Dissonanz? Entflieht Frau Bornhaus den gutturalen Lauten ihres Gatten? Er räuspert sich, kaum ertönen die ersten Akkorde. Oder sind die beiden so lange miteinander verheiratet, dass sie es vorziehen, auf getrennten Plätzen unterschiedlichen musikalischen Genüssen zu frönen? Sie dem Detail aus der Nähe? Er dem distanzierten Klangerlebnis? Was kümmern mich die Eigenheiten ihres ehelichen Zusammenspiels? Sie foutieren sich offensichtlich um die gesellschaftliche Wirkung ihrer getrennten Sitzordnung.
Wójcik verfolgt das Konzert aus seitlicher Perspektive. Er hat sich seinen Platz nicht in der bereitgestellten Bestuhlung gesucht, sondern mit halbem Gesäß an einem hölzernen Fensterbrett über dem verschnörkelten Radiator Halt gefunden. In der Schwebe. Ob er so bis zur Pause durchhält?
Die restlichen Anwesenden sind mir unbekannt. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um Mitglieder der Gesellschaft.
Nach einer halben Stunde melancholischer Klänge ist der erste Programmpunkt verklungen. Frau Dumoulin und Frau von Fischer erheben und entfernen sich ein paar Schritte. Der Pianist und die Violinistin blättern derweil in den Noten. Mit leichtem Nicken gibt Jasmin Josi das Startzeichen. Das Publikum fällt in andächtiges Lauschen. Ich beobachte Frau Bornhaus im Profil. Erinnert ihr verzückter Gesichtsausdruck nicht an Hermann Hubachers Nackedei? Die vollen Backen und die gesenkten Augenlider teilt sie offenkundig mit der Brahmsrösi. Ellen neben mir habe ich beinahe vergessen.
Frau Bornhaus knistert beim Umblättern mit den Noten. Das stört empfindlich. Die ersten beiden Sätze sind verklungen. Auch der dritte nähert sich dem Ende. Da lässt der deutsche Gast unverhofft das Notenheft auf das Parkett knallen. Sofort neigt sich die Ungeschickte vornüber, um das Heft
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