Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
Apérostimmung zurück.
Ein Umstand gibt besonders zu reden: Der Hauptmann und seine Männer haben die Villa in Begleitung eines Gastes verlassen. Nur scheinbar diskret. Tomasz Wójcik! Was hat das zu bedeuten? Ist der Pole soeben abgeführt worden? Sind wir Zeugen einer Verhaftung geworden?
Möglicherweise hat Wójcik die Beamten freiwillig begleitet. Oder stellt der zeitgleiche Aufbruch von Polizei und Doktorand einen reinen Zufall dar? Wie dem auch sei: Keinem der Gäste dürfte die unumstößliche Tatsache des unkommentierten Abgangs entgangen sein. Spekulationen machen die Runde. Wójcik als Notendieb? Wójcik als Bachmanns Vollstrecker? Auch eine positive Vermutung ist zu hören: Wójcik als Kronzeuge?
Plötzlich scheint alles möglich. Jeder traut ihm alles zu. Das dokumentiert sowohl die blühende Fantasie der Anwesenden als auch den zweifelhaften Ruf des Polen.
Wozu die Personalien aller Gäste? Einige geben sich noch immer entrüstet. Kommt die Protokollierung einer Verdächtigung gleich? Werden ihre Daten gespeichert? Werden Fichen geführt?
Andere bleiben gelassener. Der Alte mit den Hörgeräten moniert: »Wo man singt, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen haben keine Lieder.«
»Ein spannender Abend«, spottet Ellen.
Ich pflichte ihr bei. »Und eine echte Premiere. Die Befragung meine ich.«
Meine Freundin wirft lachend den Kopf in den Nacken.
Ich schaue mich nach meinem Assistenten um. Er redet gerade auf Stefan ein. Der hat mehrere Brötchen gleichzeitig auf die linke Handfläche gestapelt und damit in den Augen seines Vaters gängige Anstandsregeln verletzt.
»Jüre?«
»Hanspudi?« Er gesellt sich zu uns. »Ob Wójcik Blut an den Fingern hat?«
»Was für eine grässliche Vorstellung«, meint Ellen. Und ergänzt: »Sonatenblut?«
»Sie meinen, die Thuner-Sonate könnte sich allmählich zur Todessonate entwickeln, Frau Günther?«, fragt Jüre.
»Genau«, bestätigt sie. »Die Violinsonate mutiert zur Violenzsonate!«
Ich schüttle ungläubig den Kopf. Sodann schaue ich von Ellen zu meinem Assistenten und mache einen Vorschlag. »Lasst uns mal zusammenfassen, was wir bis jetzt wissen.«
Jüre zwinkert mit halbgeschlossenen Äuglein wie ein geblendeter Fischotter. Er streicht mit einer Hand eine Gelsträhne zur Seite und zeigt mit der andern auf Ellen.
Ich bestätige mit kurzem Nicken. Sie darf bleiben.
Danach wendet sie ihr Gesicht demonstrativ in Richtung der verblühten Fliederbüsche.
»Also dann. Wen müssen wir in den Zirkel der potenziellen Täter aufnehmen?«
»Wójcik mit erster Priorität. Offenbar hat er sich auch in den Augen der Polizei verdächtig gemacht.«
»Stimmt. Falls er tatsächlich verhaftet wurde.«
»Wie sieht es mit Frau Bornhaus aus?«
»Nur weil sie den zweiten Teil des Konzerts geschwänzt hat, muss sie nicht kriminell sein. Andererseits wissen wir, dass dem Ehepaar Bornhaus sehr daran gelegen ist, neue Besitzer der raren Schrift zu werden. Sei es nun, um sie der süddeutschen Brahmsgemeinde zu stiften, oder sie der eigenen Sammlung als Glanzlicht hinzuzufügen.«
»Welche andern Musikliebhaber könnten noch imstande sein, auf der Jagd nach Noten Musikerwild zu erlegen?«
Ellen mischt sich ein. »Ist euch eigentlich bekannt, dass es sich beim anwesenden Pianisten um einen Widmannerben handelt?«
Verdutzt wenden wir unsere Häupter wie zwei synchrone Schwäne. »Der Pianist von heute …«
»… heißt Andreas K. Widmann«, ergänzt sie.
Jüre blättert im Prospekt. »So steht’s jedenfalls im Programmheft.«
»Ein Nachfahre von Joseph Victor Widmann?«, vergewissere ich mich.
»Richtig. Vom einst so Geschätzten«, bestätigt Ellen.
»Was für ein Motiv sollte der junge Widmann haben, Bachmann die Noten zu stehlen?«, frage ich.
Mein Assistent liefert die Antwort. »Wenn wir annehmen, dass Brahms anlässlich des Hauskonzerts ein Manuskript in Bern zurückgelassen hat, könnte unser Pianist der Meinung sein, dass es sich bei den aufgetauchten Papieren um Widmanngut handelt. Er könnte sich darum im Recht wähnen, endlich an die Noten zu kommen. Zudem würde durch das Auftauchen der Sonate Widmann als Brahmsfreund wieder vermehrt ins Rampenlicht gerückt. Er und seine Bücher könnten dadurch eine Renaissance erleben.«
»Und aus den Urheberrechten könnte wieder größerer Nutzen gewonnen werden«, ergänzt Ellen.
»Ist der Urheberrechtsschutz nicht längst abgelaufen?«, gebe ich zu bedenken.
»Normalerweise gilt er für 75
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