Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
aufzuheben. Hinter mir hüstelt ihr Gatte in kurzem Stakkato. Auf der Maur wendet den Kopf ruckartig von links und rechts, als suchte er das Ausmaß der allgemeinen Verärgerung abzuschätzen. Das Publikum bleibt gelassen. Im selben Augenblick verhallt der Schlussakkord. Nach kurzem Schweigen entlädt sich ein für geriatrische Verhältnisse frenetischer Applaus. Der Brahmspräsi entbietet seine Ovationen im Stehen. Er bewegt zumindest die Rüstigeren der Konzertbesucher, es ihm gleichzutun. Nach angedeuteten Bücklingen entschwinden die Musiker in die Pause.
Ich schlendere zwischen den Konzertbesucherinnen und -besuchern umher. Allzu gerne würde ich Frau Bornhaus gegenüber eine Bemerkung wegen ihrem Malheur fallen lassen. Leider kann ich sie nirgends erblicken. Stattdessen kommen Marie-Josette und Jüre auf mich zu.
»Comme c’était merveilleux!«, ruft Marie-Josette begeistert aus. Zu ihrem Mann meint sie: »Jürg, wir sollten öfter mal ein Konzert besuchen.«
Jüre tut, als habe er den Vorschlag überhört. »Was war denn los, bei euch vorn, zum Schluss?«
»Einer Dame ist das Notenheft entglitten«, sage ich.
»Et voilà«, ruft Marie-Josette aus. »Warum hat sie kontrollieren müssen, statt tout simplement die Musik zu genießen? Hat sie befürchtet, die Musiker laissent tomber quelques notes?«
»Noten unterschlagen?«, wiederholt Jüre und hänselt: »Ist das nicht deutschen Steuerallergikern vorbehalten?«
Marie-Josette wendet sich mit gespielter Entrüstung an ihren Gatten: »Mais dis-donc, Chéri!«
Wójcik tritt zu uns. Er klärt die Situation. »Es ist gang und gäbe, dass Musikprofis mit dem Notenheft auf den Knien in Konzerten hocken, Madame Lüthi. In der Warschauer Oper tun es die Musikstudenten gleich scharenweise. Sie sorgen mit dem koordinierten Umblättern für unüberhörbares Rascheln.«
»Quand même«, erwidert Marie-Josette. Ihr Liebling schaut zu Boden, als wäre ihm der Einwand seiner Frau peinlich. Darauf plätschert das destillierte Wässerchen des gepflegten Smalltalks. Ich erkundige mich nach dem Filius.
»Der hat sich in den Garten verzogen, glaube ich«, sagt Marie-Josette.
Durch die offene Verandatür erblicke ich zwar keinen Stefan, dafür das Badener Paar. Sie stehen dicht beieinander und diskutieren heftig. Bornhaus fuchtelt mit den Armen, als verstreute er imaginäre Notenblätter in den Wind. Seine Frau wirkt aufgewühlt. Weint sie?
Der Gastgeber erscheint. »Hat es sich gelohnt?«
»Was für eine Frage, Herr Auf der Maur«, antworte ich stellvertretend für das ganze Grüppchen. »Es hat geklungen wie auf Ihrer CD. Die muss ich Ihnen übrigens noch zurückgeben.«
»Das hat keine Eile, Herr Feller. Leider hat der akustische Zwischenfall die heutige Aufnahme versaut.«
»Sie sprechen von Frau Bornhaus?«
»Ja. Immerhin hat sie sich bereits bei mir entschuldigt.«
»Kann man das Geräusch nicht herausfiltern?«, schlage ich vor.
»Doch. Könnte man. Aber das ist aufwendig. Wir werden die Aufnahme wiederholen müssen. Das verzögert das Erscheinungsdatum der CD. Leider.«
Ellen verharrt für einen kurzen Augenblick mit starrem Blick. Dann gleitet ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Sind die Unterschiede zwischen der alten und der neuen Interpretation eigentlich nicht nur für Fachleute hörbar?«, wagt Marie-Josette zu fragen.
»Heute nicht mal für die«, wendet Herr Bornhaus ein, der sich dazugestellt hat.
»Wie meinen Sie das, Herr Doktor?«, erkundigt sich Auf der Maur irritiert.
»Das wissen Sie als Brahmsspezialist doch genau.«
»Nein. Drücken Sie sich ruhig deutlicher aus«, fordert er.
»Im dritten Satz hätten die Musiker eine staccatierte Spielweise intonieren sollen. Genau das und nur das wäre das Originale an der Thuner-Sonate gewesen. Aber ausgerechnet diesen kleinen Hüpfer haben sie verpasst.«
»Sie haben es also bemerkt, Herr Bornhaus«, stellt Auf der Maur bedauernd fest. »Genauso wie Ihre werte Gattin. Darum muss ihr das Notenheft entglitten sein. Aus lauter Schreck.«
Ich zeige mich überrascht. »Woher wissen Sie eigentlich von der Differenz zwischen Vorlage und Druck, Herr Bornhaus? Nach meiner Meinung hat außer uns keiner die Originale zu Gesicht bekommen.«
»Oh doch, Herr Feller. Sie vergessen mich«, wendet Wójcik lächelnd ein, während er sich zu uns gesellt. »Die Musiker haben nach der Druckversion gespielt. Das hat mich auch überrascht. Soeben habe ich mich bei Frau Josi nach dem Grund erkundigt. Offenbar handelt
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