Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
Schriftzug des Lokals. Aus kleinen Boxen ertönt diskreter Jazz von der Decke. Hier wartet man nicht, man chillt .
Ein paar Minuten vor Einfahrt des Zugs verschiebe ich mich nach Perron fünf. Es bietet einen eher trostlosen Blick über eine stark befahrene Hauptstraße, auf wildes Grasland, kahle Erdhügel und den lindengrünen Hangar der Fliegergruppe Gaggenau. Glücklicherweise rollt der ICE 71 pünktlich ein. Ich verlasse die Bäderstadt um 11.26 Uhr Richtung Schweiz. Bis Basel lässt sich kein Schaffner sehen. Ich habe meine Ruhe. Damit wird es in der Schweiz mit Sicherheit ein Ende haben.
Was ist in der Zwischenzeit am Thunersee passiert? Hat die Polizei eine heiße Spur entdeckt? Sind die Behörden Bachmanns Mörder auf den Fersen?
23
»Das freut mich«, sagt Herr Auf der Maur und bittet mich einzutreten.
Aus dem Hintergrund tönt Stimmengewirr. Die Mehrheit der Konzertbesucher scheint bereits eingetroffen zu sein. Der Gastgeber führt mich in den Salon der Seefeldvilla. Hier sind zwei Duzend unterschiedlichster Stühle und Sessel in Reih und Glied angeordnet. Neben dem Flügel stehen drei metallene Notenständer bereit. Mehrere Mikrofone lassen vermuten, dass das Konzert aufgezeichnet werden soll. Der Brahmspräsi drückt mir ein fotokopiertes Programm in die Hand. Auf der Vorderseite prangt das Antlitz der Brahmsrösi.
Ich schaue mich um, nicke hierhin, grüße dahin. Ganz besonders freue ich mich darauf, Ellen wiederzusehen. Zuvor stellt mich der Gastgeber noch einem süddeutschen Ehepaar vor. Sie seien speziell für dieses Konzert aus Baden-Baden angereist.
»Bornhaus?«, wiederhole ich. Der Name kommt mir bekannt vor. Allerdings kann mich im Augenblick nicht erinnern, woher. Ich schätze die beiden um die sechzig. Er etwas älter als sie. Frau Bornhaus hat ihr mittellanges, gekraustes Haar in einem künstlich wirkenden Rotbraunton koloriert. Er erinnert an die Eierfarbe, die aus Zwiebelschalen gewonnen wird. Wer weiß? Ovale Brillengläser betonen ihr österliches Eiergesicht. Fehlt nur eine bunte Schleife im Haar.
Die Hornbrille von Herrn Bornhaus korrespondiert mit seiner weiß-grauen Haarpracht. Trotz angenehmer Temperatur trägt er eine hellbeige Jacke mit grünem Stehkragen. Die beiden Reversspitzen werden mit goldfarbenen Metallknöpfen auf die Brust gepinnt. So eine Art Jäger- oder Trachtenlook. Bei uns kennt man sowas aus dem Musikantenstadel. Unter dem traditionellen Kittel haut ein unkonventionelles, violettes Seidenhemd mit Krawatte wie die Faust aufs Auge. Der Gast aus Deutschland scheint damit glücklich zu werden. Jedenfalls grinst er ununterbrochen mit steifer Oberlippe.
Seine Begleiterin trägt ein sandfarbenes Leinenkostüm mit Hemdkragen. In der rechten Armbeuge baumelt eine lederne Handtasche. Viel zu wuchtig für den Anlass.
Unruhig schaue ich auf meine Armbanduhr. Wo Jürg Lüthi nur bleibt? Er wird mit seiner reizenden Gattin und dem Adoptivsohn erwartet. Auf einem hochlehnigen Stuhl studiere ich den Programmzettel. Es spielt das Oberländer Kammerorchester Vive pro Musica . Die vier Musiker werden mit Porträtfotos vorgestellt.
An der Violine: Jasmin Josi, eine 20-jährige Konsistudentin mit langem, blondem Haar und stahlblauen Augen. Sie trägt einen engen, schwarzen Jupe sowie eine einfache, weiße Bluse. Im Ausschnitt schimmert der sanfte Glanz aufgereihter Zuchtperlen.
Die Viola spielt Jesica Dumoulin. Ich schätze sie um die 30. Sie präsentiert sich in einem schwarzen Hosenanzug. Dazu hat sie ebenfalls eine weiße Bluse kombiniert. Vermutlich haben sich die Frauen abgesprochen. Am Kragen funkeln die Steine einer länglichen Silberbrosche. Am linken Ringfinger strahlt ein goldener Ehering Verbindlichkeit aus.
Marianne von Fischer, eine mollige, kurzhaarige Brünette am Violoncello, trägt praktischerweise Hosen aus schwarzem Stretchgewebe. Dazu eine cremefarbene Seidenbluse mit geknoteter Schleife um den Hals. Kein sichtbarer Schmuck. Ihr traute ich aber glatt ein verstecktes Piercing zu. Frau von Fischer stellt nach Bachmanns Ausscheiden zweifellos das erfahrenste Mitglied von Vive pro Musica dar.
An den Flügel wird sich der 35-jährige Musiker Andreas Widmann setzen. Sein unbezähmbarer Lockenschopf fällt ihm auf dem Foto in eine hohe Denkerstirn, über die vertikal eine vier Zentimeter lange Narbe verläuft. Auf den Wangen erzählt großporige Haut von einer schlecht ausgeheilten Akne.
Drei Kompositionen Johannes Brahms’ stehen auf dem Programm. Das
Weitere Kostenlose Bücher