Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
Mit beidem täte man ihnen aber unrecht. Das einzige Vergehen, das ihnen möglicherweise zur Last gelegt werden könne, sei jenes der unterlassene Hilfestellung.«
»Nehmen Sie ihnen diese Version ab?«
Hauptmann schüttelt den Kopf. »Nein. Aber es wird schwierig werden, ihre Schuld zu beweisen.«
»Heißt das, dass die beiden aus der Untersuchungshaft entlassen werden?«
»Zweifellos«, bestätigt Geissbühler. »Darum habe ich Sie nochmals angerufen, Herr Feller. Ich erhoffe mir Beweise, die sie doch noch überführen könnten.«
Ich beiße mir auf die Oberlippe und hebe bereits die Hand Richtung Augenbraue. Für diese Mal weiß ich den Raubbau aber noch rechtzeitig zu stoppen. »Da muss ich Sie enttäuschen, Herr Geissbühler. Meine ganze Hoffnung stützte sich auf den Showdown vor dem Feuer. Leider hat er sich in Rauch aufgelöst. Was meint Bornhaus eigentlich zum Vorwurf des Totschlags?,« frage ich.
Hauptmann Geissbühler stemmt sich gegen die Rücklehne. »Er hat zu Protokoll gegeben: Ich denke nur Musik!«
28
Zwei Wochen später legen sich die Turbulenzen um die Brahmskomposition.
Die öffentliche Diskussion konzentriert sich bereits auf neue Geschichten. So werden einigen Mitgliedern des örtlichen Fußballclubs Libidoprobleme beim Abschuss vorgeworfen. Ein anderer Abschuss polarisiert Stadt und Kanton. Schwarze Schwäne aus Australien bedrohen die weiße Unschuld der Höckerschwäne. Weiter verursachen graue Kassen im Vereinswesen Misstöne um Mischtöne zwischen Schwarz und Weiß. Für kontrastreiche Unterhaltung bleibt in der Zähringerstadt gesorgt.
Ich spaziere über das Hochtrottoir der oberen Hauptgasse. Vor Eleonore Günthers Schaufenster bleibe ich stehen. In der Auslage fällt mir eine Neuerscheinung ins Auge. ›Die Thuner-Sonate. Die vielversprechende Violonistin Jasmin Josi interpretiert die Sonate Opus 100 nach dem Originalmanuskript.‹ Wie ist das möglich? Wie ist es Coda gelungen, so rasch eine CD herauszugeben? Woher haben die Musiker die Originalnoten? Warum fallen sie der Brahmsgesellschaft in den Rücken?
Noch bevor ich meine Gedanken ordnen kann, taucht die Geschäftsführerin hinter dem Ladentisch auf. Ellen erkennt mich sofort. Sie winkt mich hinein. Ich bleibe unschlüssig stehen. Langsam folge ich ihrer Aufforderung. Auf ihre Erklärungen bin ich jetzt schon gespannt.
»Hallo, Hanspeter«, begrüßt mich Ellen munter.
Ohne den Gruß zu erwidern will ich wissen: »Wie bist du an das Original gekommen?«
Sie lacht und erklärt sich: »Das war kein Kunststück. Ich habe Fotokopien gemacht, als Wójcik bei mir vorsprach. Ich gebe ja zu, dass es nicht ganz korrekt war. Möglicherweise habe ich sein Vertrauen etwas überstrapaziert. Aber seit er sich in Polizeigewahr befindet, ist die Frage seiner Unschuld sowieso hinfällig. Jeder verfolgt halt seine eigenen Interessen. Als mir zu Ohren gekommen ist, dass die Brahmsgesellschaft eine Musikaufnahme plant, musste ich Gas geben. Ich bin schließlich auf die Einkünfte aus meinem Label angewiesen. Coda bedeutet für mich Passion und Profession.«
Sie will mir eine CD schenken. Das lehne ich trotzig ab. Auf der Maur und seine hintergangene Gesellschaft tun mir leid. Ellen enttäuscht mich schwer. Mein Vertrauen ist geschmolzen wie der Gletscherfirn in den Sommermonaten. Und bis dort hinauf wollte ich sie einst mit meinem zweirädrigen Ferrari chauffieren?
*
Auf der Maur hat demissioniert, nachdem ihm die Machenschaften des Thuner Labels zu Ohren gekommen sind.
Zu arg haben ihn die Tempi furiosi um die Brahmssonate mitgenommen. Sehr zum Bedauern der langjährigen Mitglieder. Der abtretende Präsident hat einem Jüngeren den Platz geräumt. Es handelt sich um einen Geiger. Ob mit dieser Wahl Bernhard Bachmann postum die Ehre erwiesen werden soll?
Der Neue heißt Konrad Mühlemann. Ein Oberländer Musiker. Er hat bisher in erster Linie als Hängegleiterpilot am Niesen für Aufsehen gesorgt. Man darf auf ein neues Mitgliederprofil gespannt sein.
Wäre ich in Baden-Baden imstande gewesen, die Zeichen der Zeit zu deuten, so hätte ich mich über die Fledermaus bei den hochbeinigen Vorratskrügen wohl weniger gewundert. Heute jedenfalls segelt in Thun eine Fledermaus mit weit gespannten Flügeln von der Mauer. Auf die Ära Auf der Maur folgt die Ära Mühlemann. Wird jetzt der Weizen von der Spreu getrennt? In der Vergangenheit wurde nicht selten reifes Korn vor die Hühner gestreut. Das verdorbene Saatgut dagegen wurde
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