Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
Aber ich dachte, Sie kennen sich näher«, meinte der Mann. Das Misstrauen in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Braig überlegte, was er antworten, inwieweit er sich dem Mann offenbaren sollte. Ihm ohne Wenn und Aber seinen Beruf und den Grund des Anrufs nennen? Wenn sein Sohn mit dem Tod des Mädchens zu tun hatte, vielleicht sogar der Täter war, konnte sich das als leichtfertige Dummheit erweisen. Und ausschließen ließ sich das nicht, im Gegenteil: Braig wusste nur zu gut, dass sich schwere Gewalttaten sehr oft zwischen einander nahe stehenden Menschen abspielten, wobei es meist außer Kontrolle geratene Männer waren, die über ihre Partnerin herfielen. Wenn Lisa Haag wirklich im Begriff gewesen war, eine neue Liaison einzugehen und dies ihrem bisherigen Freund mitgeteilt hatte – war Dennis Zeller bei diesem Geständnis ausgerastet und über seine Partnerin hergefallen? Oder hatte er auf Umwegen von ihrer Absicht erfahren und sie in blinder Wut niedergestreckt? Dass der Mord weit weg von Tübingen nahe Schwäbisch Hall geschehen war, sprach nicht gegen diese Hypothese, im Gegenteil: Konnte der etwa hundert Kilometer entfernte Tatort doch den bewussten Versuch darstellen, von der eigenen Verantwortung abzulenken. Ob es ihm passte oder nicht, Braig musste das Alibi Dennis Zellers bis ins Detail überprüfen.
»Seit wann ist Ihr Sohn in der Höhle?«, erkundigte er sich deshalb, ohne auf die Frage des Mannes einzugehen.
»Sie sind gut. Seit heute Morgen natürlich. Oder glauben Sie vielleicht, die übernachten da drin?«
»Und gestern Abend? Wo war er da?«
»Gestern Abend? Warum wollen Sie das denn wissen? Was hat das mit Ihrer Versicherung zu tun?«
»Kann es sein, dass ich ihn gestern Abend in Schwäbisch Hall gesehen habe?«
»In Schwäbisch Hall? Was soll er denn dort? Ach so, Sie meinen wegen Lisa?«
»Sie kennen sie?«
»Dennis Freundin? Natürlich. So ein zauberhaftes Geschöpf. Hat der Kerl ein Glück! Da könnte man auf seine alten Tage direkt neidisch werden. Auf den eigenen Sohn.«
»War er gestern Abend also in Schwäbisch Hall?«
»Woher soll ich das wissen? Wir kontrollieren seine Schritte nicht, auch wenn er noch bei uns wohnt. Dennis ist 24. Wie soll ich Ihnen da erzählen, wo er sich gestern Abend aufgehalten hat? Ich weiß nur, dass er nicht zu Hause war. Reicht das?«
11. Kapitel
Kriminalhauptkommissar Stephan Herb hatte schlicht und einfach die Schnauze voll. Seit vier Tagen, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und jetzt heute wieder am Samstag hockte er unablässig von früh bis spät irgendwo in einer der Straßen Reutlingens und starrte diesem ausgemergelten Schwarzhaarigen hinterher. Mal, wie der Mann wie heute morgen die Kaiserstraße entlang bis zur Planie marschierte, am Kaiser-Wilhelm-Denkmal abbog und dann der Bismarckstraße bis zur Karlstraße folgte, um dort für eine halbe Stunde in einem wenig ansehnlichen Haus zu verschwinden, mal, wie er quer durch den Stadtgarten lief, um einer Herb unbekannten Person in der Silberburgstraße einen Besuch abzustatten.
Reutlingen konnte mit sehenswerten Partien aufwarten, ohne Zweifel, Herb hatte in den letzten Tagen Teile der Stadt zur Genüge kennengelernt. Die Altstadtgassen rings um die Marienkirche etwa mit der stimmungsvollen lang gezogenen Fußgängerzone, die am Hang zur Achalm hin gelegenen idyllisch ins Grüne gebetteten Straßenzüge mit prächtigen Villen, selbst dem jetzt im Januar doch recht kahlen Friedhof unter den Linden, den der Mann seltsamerweise schon dreimal in diesen Tagen durchquert hatte, wollte er die besondere Atmosphäre nicht absprechen.
War man allerdings – wie in seinem Fall – nicht aus freien Stücken, sondern durch berufliche Zwänge bedingt in der Stadt unterwegs, relativierte sich der Reiz Reutlingens doch etwas, allen preiswerten, reichlich vorhandenen Dönerbuden und frühsommerlich warmen Januar-Temperaturen zum Trotz. Die beruflichen Zwänge bestanden in der Tatsache, dass der ausgemergelte Schwarzhaarige, Abdul Zibari oder so ähnlich mit Namen, kein Mensch wusste es genau, ein Asylbewerber aus dem Irak, im Verdacht stand, einen Anschlag auf eines der beiden Atomkraftwerke in Neckarwestheim vorzubereiten – das waren jedenfalls die Informationen, mit denen Herb vor Beginn der Überwachung versehen worden war. Die Verfassungsschützer, in unmittelbarer Nachbarschaft des Landeskriminalamts in Bad Cannstatt residierend, waren um Mithilfe in diesem dringenden Fall vorstellig geworden,
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