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Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel

Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel

Titel: Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
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ertappte Braig sich dabei, wie er die herzergreifend-melancholische Melodie vor sich hinsummte. Ein Lied, die Sorgen des Alltags zu vergessen? Nur, solange er sich den Inhalt des Textes nicht vergegenwärtigte, war ihm bewusst. Die darin angesprochenen Probleme kamen ihm nur allzu bekannt vor.
    Der Auftritt der legendären Rockband allein war es nicht, was ihn veranlasste, diese Lange Nacht nicht so schnell zu vergessen. Engel mitten unter uns hatte das Veranstalterteam den Abend überschrieben, und was er in diesem Zusammenhang an Informationen erhielt, war von selten beeindruckendem Inhalt.
    Es war komplett neu für ihn, er hatte noch nie davon gehört. Weit über hundert Menschen, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens anderen, ihnen völlig Unbekannten das Leben gerettet hatten in einem riskanten, Wochen, ja, Monate währenden Unterfangen – Braig hatte es nicht glauben wollen, war zuerst der Auffassung, da werde bewusst an Märchen gestrickt, voller Absicht heroisiert. Erst als er mit Thomas Weiss ins Gespräch gekommen war, hatte er begriffen, dass es sich bei den dargestellten Ereignissen nicht einmal im Ansatz um verklärende oder beschönigende Geschichtsklitterung, vielmehr um bisher weitgehend verschwiegene, doch real geschehene Heldentaten von Menschen hier aus der Umgebung Stuttgarts handelte. Ich konnte es anfangs auch nicht glauben, als ich bei meinen Recherchen darauf stieß, hatte der Journalist erklärt, da gibt es so viele Menschen, die der widerwärtigen braunen Pest widerstanden und ohne davon zu profitieren anderen das Leben retteten – und wir hyperaufgeklärten, von unseren sensationsgeilen Medien über jede noch so inhaltsleere Banalität in aller Ausführlichkeit informierten Leute wissen bis heute nichts davon.
    Dass ihn eine – wenn auch anspruchsvolle, zum Nachdenken anregende – Samstagabend-Veranstaltung so berühren würde, hatte Braig nicht für möglich gehalten. Die in Auszügen präsentierte Biografie des 1943 aus Berlin geflohenen jüdischen Ehepaars Karoline und Max Krakauer, das die braune Barbarei nur deshalb überlebt hatte, weil es wie viele andere Verfolgte in annähernd fünfzig verschiedenen Pfarrhäusern und bei weiteren Mitgliedern der Evangelischen Bekennenden Kirche im Schwäbischen fast zwei Jahre lang ununterbrochen versteckt worden war – allen braunen Banditen und ihren Denunzianten zum Trotz, hatte ihn sofort in Beschlag genommen. Als Engel mitten unter uns hatten die Referenten an einzelnen Beispielen verschiedener Pfarrersfamilien deutlich gemacht, welche Risiken diese vollkommen uneigennützig handelnden Menschen auf sich genommen hatten, um das Leben Fremder zu retten. In Köngen, in Gerstetten, in Wankheim, in Rächt, in Reichenbach an der Fils, in Waiblingen, in Kernen-Stetten und vielen anderen Orten rund um Stuttgart waren so Zufluchtsstätten entstanden, die wehrlose Verfolgte vor dem schon sicher geglaubten Tod bewahrt hatten. Erstaunt und zugleich enttäuscht, von all diesen Menschen noch nie gehört zu haben, hatte Braig vom Leben und Tun dieser weitgehend verleugneten schwäbischen Engel erfahren.
     
    Kurz nach zwölf am Sonntagmittag stand er in Bissingen an der Teck vor dem Haus der Zellers. Es handelte sich um eines jener typischen, in den späten 50er oder frühen 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts errichteten Einfamilienhäuser der Marke Gucket no alle her, zu was mirs scho so bald nach dem Krieg bracht hent, mit jede sensible Seele schmerzendem grün lackiertem Gartenzaun, auf den Millimeter genau gleichförmig gemähtem Rasen rund ums Haus und der obligatorischen, in giftgrünem Ton ausgeführten Plexiglas-Überdachung vor der über drei Stufen zu erreichenden Haustür. Links vom Gebäude die damals eigenhändig errichtete Garage, rechts die mit annähernd hundertprozentiger Sicherheit von der Frau des Hauses betreuten Beete, jetzt, der kalten Jahreszeit wegen, ohne Bewuchs.
    Braig sah die beiden Namensschilder an der breiten Steinsäule neben dem Gartentor: Erwin und Margot Zeller und Dennis Zeller, drückte auf die obere Klingel. Der junge Mann schien sich in seinem Elternhaus eine eigene Wohnung eingerichtet zu haben. Ein sanfter Gong aus der Dachschräge des Obergeschosses war bis auf die Straße zu vernehmen.
    Braig schaute hoch, bestaunte die Burg Teck, die weithin sichtbar voller Anmut über dem kleinen Ort in den Himmel zu ragen schien, eines der bekanntesten Bauwerke der gesamten Region. Kurz nach zehn Uhr am Morgen hatte

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