Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
Meisner fand ich sofort. Mehrere Verbindungen, fast jeden Abend, manchmal über eine Stunde lang, dazu am Freitag zweimal per SMS. Morgens kurz nach 10 Uhr, dann noch mal mittags um Drei. Er wohnt in Ludwigsburg, du hast es nicht weit. Ich maile dir das Material aufs Handy, dann kannst du dir sofort einen Überblick verschaffen.«
»Du spielst heute keine Orgel?«
»Wochenend-Bereitschaft, nein. Erst nächsten Sonntag wieder. Dazu bist du übrigens ganz herzlich eingeladen. Ein kleines Konzert. Aber, um jetzt nicht vom Thema abzukommen, ich habe die Kugel aus dem Baum, an dem die junge Frau erschossen wurde, analysiert. Sie stammt von einer Walther PPK 7.65. Hinz und Kunz. Das wird nicht einfach.«
Braig bedankte sich bei Dolde für dessen Aktivität, beendete das Gespräch. Dann hatten sie diesen Meisner, mit dem sich Lisa Haag kurz vor ihrem Tod angeblich verabredet hatte, also aufgespürt. Zweimal hatte sie am Freitag mit ihm noch Informationen ausgetauscht, welchen Inhalts auch immer. Gegen 10 Uhr und dann kurz vor ihrem Treffen gegen 15 Uhr noch einmal. Er musste den Mann in Ludwigsburg aufsuchen und ihn zur Rede stellen, heute Mittag noch, Sonntag hin oder her. Dass ihm die Gesprächsverbindungen des getöteten Mädchens heute schon zur Verfügung stehen würden, hatte er nicht zu träumen gewagt. Nach all den negativen Erfahrungen der letzten Jahre hatte er befürchtet, bis zum Montag auf die Übermittlung der Daten warten zu müssen und sie auch dann erst unter Einschaltung der Staatsanwaltschaft tatsächlich zu erhalten. Doldes Aktivität und dessen unverhoffter Erfolg hatten ihm eine Menge Mühe erspart. Einmal mehr war er sich bewusst, welch wertvolle Bereicherung ihrer Arbeit der junge Techniker darstellte.
13. Kapitel
Lumpenburg hatten die anständigen Schwäbinnen und Schwaben das künstliche, von Protz und Pomp geprägte Gebilde genannt, das nicht wie all die anderen, von frommen und tugendhaften Bürgern bewohnten ordentlichen Städte und Dörfer des Ländles über die Jahrhunderte hinweg langsam gewachsen, sondern unter der Regie eines verruchten Herrschers aus dem Boden gestampft worden war. Dass es dem Gründer dieses Siedlungsensembles anfangs nicht gelang, Menschen aus der näheren oder ferneren Umgebung zum Umzug in seine neue Stadt zu bewegen, verwunderte niemand, zu sehr war der Sündenpfuhl in ganz Schwaben verschrien.
Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg musste schon zu einer Mixtur aus Pressionen, übelsten Strafandrohungen und dem Versprechen von Steuervergünstigungen greifen, um die Gebäude Lumpenburgs mit lebendigem Inventar füllen zu können. 1704 hatte er auf dem Gelände des zum Kirchengut gehörenden Erlachhofs den Grundstein zum pompösen, in ganz Deutschland von der Größe her nicht übertroffenen Barockschloss Ludwigsburg legen, direkt im Anschluss nach dem Muster der regelmäßigen niederländisch-französischen Städtebaukunst den gleichnamigen Ort errichten lassen, der schon 1718 zur Stadt und 1724 zur schwäbischen Residenz anstelle Stuttgarts ernannt wurde. Was die ordentlichen Menschen im Ländle so erzürnte, war nicht allein der protzige, völlig unschwäbische Lebensstil in Lumpenburg, sondern auch der Lebenswandel Eberhard Ludwigs.
Dieser mit Johanna Elisabeth von Baden-Durlach verheiratete Landesherr war der vom Volk alsbald als Landverderberin bezeichneten, aus Mecklenburg stammenden schönen und ehrgeizigen Wilhelmine von Grävenitz dermaßen verfallen, dass er nicht nur seine rechtmäßige Ehefrau im Alten Schloss im anständigen Stuttgart zurückließ und mit seiner Mätresse ins sündige Lumpenburg zog, sondern diese 1707 auch noch heiratete. Der Gründer Lumpenburgs, der Landesherr Württembergs, ein Bigamist! Zwar wurde die Ehe mit der Landverderberin ein Jahr später auf Druck der Nachbarstaaten annulliert und die Grävenitz zum Schein mit dem dafür zum Landhofmeister ernannten, hoch verschuldeten Grafen von Würben verheiratet, doch blieb die Liaison mit Eberhard Ludwig volle dreiundzwanzig Jahre erhalten: Der Graf außer Landes gejagt, die Grävenitz als heimliche Herrscherin des Ländles. Skrupellos und voll unersättlicher Machtgier übernahm sie den Vorsitz im Kabinettsministerium, besetzte dieses mit ihren Brüdern und Vertrauten. Und natürlich geriet das gesamte Ländle in dieser Zeit der Lumpenburger Herrschaft in eine katastrophale finanzielle Schieflage, bis endlich 1734 nach dem Tod des Herzogs das anständige Stuttgart wieder zur
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