Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
hatte seit ein paar Monaten einen Gönner, meinte sie, der ihm immer wieder Software oder anderes Computerzubehör schenkte. Auch Geld, zum Teil sogar größere Mengen, eine Videokamera und Ähnliches. Dafür musste er ihm ab und an einige Arbeiten am Computer erledigen.«
»Wie Bilder fälschen und so?«, fragte Braig.
»Genau. Er hat ihr sogar öfter mal ein paar Fälschungen gezeigt. Mein Gesicht auf dem Körper der englischen Königin oder als Bundeskanzlerin und so ähnliche Sachen, alles harmlos, meinte sie. Am Anfang war er anscheinend total begeistert von dieser neuen Software, er war zu nichts anderem mehr zu gebrauchen. Vor ein paar Tagen hatte sich diese Begeisterung allerdings plötzlich gelegt.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Ich kann es jetzt auch nicht genauer erklären. So erzählte es Annika Jung jedenfalls. Stefanie Riedinger muss sie noch einmal fragen, was sie damit meinte. Sie fährt nachher nach Spraitbach, sie hat es mit Annika Jung und ihren Eltern ausgemacht.«
»Du glaubst ihr, was sie dir bisher erzählt hat?«
»Na ja, was spricht dagegen? Ein junger Mann, Computer-Freak, wird mit teurer Software beschenkt, damit er mit eben dieser Software Bilder fälscht. Wäre doch möglich, oder?« Neundorfs Miene brachte deutlich zum Ausdruck, dass ihr diese Vorstellung keine Schwierigkeiten bereitete.
»Das bedeutet also: Es gibt eine Person im Hintergrund, die Napf zu seiner Erpressung anleitete«, überlegte Braig.
»So etwa stelle ich mir das vor«, bestätigte seine Kollegin und reichte ihm ein beschriebenes Blatt, »aber da ist noch ein weiterer Punkt, mit dem ich nicht ganz klarkomme: Nathalie Binninger schwört Stein und Bein, dass die Fotos gefälscht sind. Sie kannte Schmiedle, weil Binninger früher als Manager bei der Firma Göttler arbeitete und dann zu deren Tochterfirma Zeidle wechselte. Er war ihr sympathisch, gab sie heute morgen zu, als ich sie noch einmal darauf ansprach, sympathisch, sie wiederholte das Wort zwei- oder dreimal, mehr war da nicht. Sie hat ihren Mann nicht betrogen, weder mit Schmiedle noch mit sonst jemandem, sie ist bereit, das vor Gericht zu beschwören. Hier hat sie es mir schriftlich gegeben.«
Braig überflog das Schreiben der Frau, das Neundorfs Worte bestätigte, gab es ihr zurück. »Du glaubst ihr?«
Seine Kollegin zögerte keine Sekunde mit ihrer Antwort. »Voll und ganz.«
»Binninger aber offensichtlich nicht«, meinte Braig. »Er hegte seiner Frau gegenüber so viel Misstrauen, dass er sofort bereit war, die Aufnahmen als echt zu akzeptieren. Napf muss von Binningers Eifersucht gewusst haben. Das hat ihn auf die Idee gebracht.«
»Napf?«, fragte Neundorf, »wirklich dieser kleine Zivildienstleistende?«
»Oder?«, überlegte Braig. Er wusste sofort, worauf seine Kollegin anspielte. »Du denkst an diese ominöse Person im Hintergrund?«
Neundorf trank ihre Tasse leer und nickte.
»Genau an die, ja.«
33. Kapitel
Außergewöhnliche Schwaben
Von Thomas Weiss
Gustav Werner
Nicht hoch bezahlte, mit Boni und Sondergratifikationen belohnte Spitzenmanager sind es, die den Menschen in der Situation größter Not aus ihrem Elend geholfen haben, sondern einfache, ohne lange Überlegung zum Zupacken bereite Leute, die sich, ohne nach besonderem Verdienst zu schielen, nicht zu schade waren, ihre Hände schmutzig zu machen – bei den Schwaben in ganz besonderem Maß.
Selten war die wirtschaftliche und soziale Lage in Württemberg schlimmer als in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Unzählige Regenjahre, Unwetter mit Hagel und Frösten, dazu die fast überall verbreitete Kartoffelfäule hatten das Land zur Elendsregion verkommen lassen – und das mitten im Strukturwandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Tausende von Menschen hungerten, ja verhungerten; in keiner anderen Region Mitteleuropas waren so viele um des bloßen Überlebens willen zum Auswandern gezwungen wie in Württemberg.
In dieser Situation erkannte der in Tübingen zum evangelischen Theologen ausgebildete junge Pfarrvikar Gustav Werner, dass es nicht damit getan sein konnte, seine Gemeindeglieder mit frommen Sprüchen zu gottgefälligem Dahinvegetieren anzuleiten, sondern ihnen mit aktiver Nächstenliebe zu helfen, sich aus dem Sumpf des materiellen Elends zu befreien. Im von der Industrialisierung bereits geprägten Reutlingen schuf Werner deshalb ein Netz von »Rettungshäusern«, die unter dem Namen Bruderhaus Behinderten, Kranken, Waisen und Verelendeten
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