Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
Hauch jener monströsen Monumentalität ausstrahlend, die plump und unübersehbar die Macht autoritärer Herrscher spiegelte. War es wirklich möglich, dass es sich bei dieser in allen Fasern ihrer Konstruktion Understatement atmenden, rundum sympathischen Anlage um das Hauskloster und die zeitweilige Grablege eines der einst mächtigsten deutschen Herrschergeschlechter, dem der Staufer nämlich, handelte?
Braig erinnerte sich noch gut an den Tag im vergangenen Sommer, als er Lorch gemeinsam mit Ann-Katrin und ihrer Schwester Theresa besucht hatte. Vom Bahnhof unten im Tal waren sie den Hügel bergan gestiegen, das zu Beginn des 12. Jahrhunderts gegründete ehemalige Kloster in wenigen Minuten erreichend. Uraltes Siedlungsgebiet lag ihnen zu Füßen, hatten doch schon die Römer in Lorch ein Kastell zum Schutz des hier verlaufenden Limes, des östlichen Grenzwalls ihres Großreiches erbaut. Fast 1000 Jahre später, in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, war die auf dem nur wenige Kilometer entfernt gelegenen Hohenstaufen residierende Herrscherfamilie der Staufer auf die Idee gekommen, zuerst unten im Tal der Rems in den Überresten des alten Römerkastells, wenige Jahrzehnte später dann auf der Anhöhe über Lorch ein Hauskloster zu errichten, das nicht nur den Aufstieg des eigenen Geschlechts präsentieren, sondern auch als dessen Grablege dienen sollte.
Braig erinnerte sich an die Erklärungen Theresa Räubers, mit denen sie die Entstehung der Anlage geschildert hatte. Im Verlauf des Mittelalters waren Klöster zu den bevorzugten Bestattungsorten reicher Familien geworden. Die ausgeprägte Angst vor grauenvollen Höllenstrafen und unendlich lang währender Folter im Fegefeuer, von katholischen Priestern, Bischöfen, Kardinälen und Päpsten zur Legitimation und Steigerung ihrer eigenen Macht erfunden, verbreitet und in immer neuen Variationen aufgebauscht, hatte die Normalsterblichen dazu verleitet, Maßnahmen zu ergreifen, die, wenn nicht schon zur Verhinderung dieser schrecklichen Erlebnisse, so doch wenigstens zu ihrer Reduzierung und Milderung dienen sollten. Familien mit Einfluss und Geld hatten deshalb die Errichtung von Klöstern in die Wege geleitet, in denen ihre Angehörigen begraben und durch alljährliche Totengedenkfeiern geehrt wurden. Zugunsten dieser Totengedächtnisse stifteten sie hohe Summen, die unter anderem den Mahlzeiten der Nonnen und Mönche an diesen Tagen zugute kamen: Sie hofften, der Name ihrer Familie werde durch diese Großzügigkeit im Bewusstsein aller im Kloster lebenden Frommen als der einer Spezies besonders freundlicher Menschen verankert und veranlasse möglichst viele Nonnen und Mönche dazu, für das Seelenheil dieser Familie zu beten. Besonders beliebte Begräbnisstätten waren die Kirche und der Kreuzgang, glaubte man doch, der Segen der dort zum Himmel geschickten Gebete strahle hier der räumlichen Nähe wegen intensiver auf die Verstorbenen aus als in abgelegeneren Teilen.
In Lorch finden sich heute deshalb sowohl die Staufer-Grablege mit den Überresten der 1208 verstorbenen byzantinischen Kaisertochter Irene, der Gemahlin König Philipps von Schwaben, auf deren Gedenkplatte im südlichen Querschiff der Kirche Walter von der Vogelweides sie verherrlichende Verse eingemeißelt wurden, als auch die Gräber der Adelsfamilien von Woellwarth und von Schechingen.
Das Ende des Klosters Lorch war 1535 mit der Einführung der Reformation in Württemberg erfolgt: Statt wie bisher unter der Fessel des Katholizismus das normale Volk von jedem Ansatz von Information und Bildung fernzuhalten, um es besser als verdummte Arbeitssklaven missbrauchen und an der langen Leine führen zu können, sorgte das protestantische Ideal der Aufklärung und Selbstbestimmung des einzelnen Menschen jetzt dafür, allen möglichst umfangreiche Bildung zukommen zu lassen, um sich selbst ohne fremde Hilfe Gottes Wort und seine Schöpfung erschließen zu können. So wurde das Kloster Lorch wie die anderen Klöster in den evangelischen Ländern auch in eine Schule für die Bevölkerung der Umgebung verwandelt.
Dass sich heute in der ehemaligen Abtei des Klosters ein von der Diakonie getragenes Seniorenheim befand, war Braig freilich erst wieder eingefallen, als Britta Vollmers diesen Sachverhalt erwähnt hatte. Er war nach dem Telefonat die kurze Strecke zum Esslinger Bahnhof gelaufen, hatte die Nummer Ralf Kobers eingegeben und ihn über das Verschwinden seines Stellvertreters
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