Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
Schlaganfall hatte. Jeden Tag, von Montag bis Samstag sowieso und oft auch noch sonntags, nicht aber am Dienstag. Da gibt es in der Verwandtschaft nämlich niemanden, der sich um die Tante kümmern kann. Samstag und Sonntag haben viele Zeit, da sitzen hier manchmal mehrere Besucher. Aber unter der Woche … Dienstagnachmittag und -abend sind meine Stunden, das habe ich versprochen. Und das halte ich eisern durch. Wenn Sie nämlich ein einziges Mal nachgeben, einem einzigen beruflichen Termin den Vortritt lassen, ist es vorbei, dann sind sofort alle anderen Dienstag Nachmittage genauso belegt. Zusätzlich zu allen anderen Tagen. Der Job frisst einen auf, es sei denn, Sie schieben einen Riegel vor und halten unbeirrbar an ihm fest. Tante Ingrid hat das verdient.«
»Sie haben sie sehr gern.« Braig betrachtete den Mann mit unverhohlener Bewunderung.
»Nehmen Sie bitte Platz.« Kober deutete auf den Stuhl am Tisch, setzte sich wieder aufs Sofa.
Braig folgte seiner Aufforderung, zog sich den Stuhl her, ließ sich darauf nieder.
»Ja, ich habe sie gern«, erklärte Kober, der sprachlosen, freundlich lächelnden Frau neben sich zärtlich über den Arm streichelnd, »aber das beruht auf Gegenseitigkeit. Tante Ingrid war meiner Schwester und mir eine liebevolle Ersatzmutter, als unsere richtige Mutter starb. Was heißt Ersatz – sie ist kein Ersatz, das klingt so billig.« Er sah Braigs interessierte Miene, kam dessen Frage zuvor. »Ich war zehn, meine Schwester elf, als das geschah. Von einem Auto überfahren, mitten in Heilbronn. Mein Vater im Ausland, beruflich unterwegs, Tante Ingrid war sofort da.« Der Mann drückte die Hand seiner Tante, hielt sie fest. »Und dann, vor vier Jahren, dieser Schlaganfall. Nichts mehr mit Sprechen, wir haben alles versucht, eine Therapie nach der anderen. Das Sprachzentrum ist völlig zerstört. Irreversibel.«
»Aber sie kann uns verstehen«, warf Braig ein.
»Nur die allereinfachsten Dinge«, erwiderte Kober, »Freundlichkeit, Berührung, Streicheln, bekannte Gesichter und Stimmen, nicht wahr, Tante Ingrid?« Er fuhr ihr langsam mit seiner Rechten über die Stirn, verwandelte ihre Miene in ein begeistertes Strahlen.
Die Frau hatte offenkundig ein tragisches Schicksal erlitten, schien den Aussagen seines Gesprächspartners zufolge ihre kognitiven, ja ihre gesamten intellektuellen Fähigkeiten von einem Tag auf den anderen verloren zu haben. Wenn er es richtig verstanden hatte, gab es keine Möglichkeiten mehr, mit ihr zu kommunizieren, jedenfalls nicht in einem tiefergehenden Ausmaß. Sie reagierte auf bekannte Gesichter, vertraute Stimmen, war darüber hinaus aber chancenlos in sich selbst gefangen – ein Schicksal, das Braig unwillkürlich und voller Besorgnis an seine eigene, inzwischen 79jährige Mutter denken ließ. Schlaganfälle sind in unserer Familie verbreitet, hatte sie ihm mehrfach erklärt, du musst damit rechnen, dass es auch mich bald trifft, das liegt, wie sagen sie heute, in den Genen; du verstehst, was ich meine?
Allzu oft hatte er ihre Warnungen beiseitegeschoben, sie als das betrachtet, was sie zumindest ein Stück weit auch waren: Verzweifelte Versuche, den einzigen Sohn näher an sich zu binden, ihn zu häufigeren Besuchen, vermehrten Telefonaten zu bewegen, eine Art Erpressung, wie Ann-Katrin in bestimmten Situationen, in denen die Thematik von seiner Mutter in besonders eindringlicher Form präsentiert worden war, formuliert hatte. Ob Erpressung oder nicht, wann immer Braig mit Menschen, die ein solches Schicksal erlitten hatten, konfrontiert wurde, sein schlechtes Gewissen meldete sich mahnend zu Wort, sich mehr um seine Mutter zu kümmern.
Er hatte Mühe, sich auf sein eigentliches Anliegen zu besinnen, betrachtete die beiden Menschen vor sich. Das Bild hatte mit seiner Erwartung wenig zu tun, jedenfalls, was den Mann anbetraf. Kober, eine kleine, fast dicklich zu charakterisierende Gestalt, wirkte mit den kräftigen roten Backen und den verschmitzt lächelnden Augen völlig anders als er sich den Chef eines Unternehmens mit über 1200 Beschäftigten vorgestellt hatte. Keine Spur von Machtbesessenheit, übersteigertem Selbstbewusstsein oder Gier nach Erfolg – wie auch immer diese Wesenszüge sich in der Physiognomie eines Menschen manifestieren sollten. Wie er so dasaß, freundlich lächelnd und zärtlich den Arm um die recht korpulente Dame gelegt, bot er eher den Anblick eines altersmilden Pfarrers als den eines machtbewussten Managers. War dieses
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